Die Eiszeit begann am Untersee. An Weihnachten 1962 deutet sich allmählich an, dass dieser Winter es in sich haben würde. Bereits am 27. Dezember wird zwischen dem Campingplatz Radolfzell und dem Zeltplatz Markelfingen ein 1.300 Meter langer Eisweg freigegeben. Was damals noch niemand ahnt: Es ist der Auftakt zur ersten Bodensee-Gfrörne seit 1830. Die arktische Kälte wird bis Mitte März andauern und für einen komplett zugefrorenen See sorgen.
Die Menschen am Untersee scheint das zunächst wenig zu stören. Ganz im Gegenteil. Kaum sind die Eisflächen von den Behörden freigegeben, machen sich Tausende auf, um trockenen Fußes den See zu überqueren.
Völkerwanderung am Untersee
Die Reichenau ist schon bald komplett vom Eis eingeschlossen. Am 18. Januar 1963 wird ein Eisweg von der Insel Reichenau nach Mannenbach in der Schweiz freigegeben, was zu einer grenzüberschreitenden Völkerwandung ganz ohne Zollschranken führt. Im damaligen Europa eine Sensation.
Die arktische Kälte in der Region dauert an. Doch den Menschen ist noch nicht bewusst, dass gerade ein Jahrhundertereignis seinen Lauf nimmt, nicht nur am Bodensee: Am 24. Januar 1963 ist der Zürichsee auf seiner ganzen Fläche zugefroren.
Die beginnende Seegfrörne lockt immer mehr Menschen an den Bodensee. Auf den zugefrorenen Stellen am Untersee und Überlinger See tummeln sich tausende Spaziergänger. Auch die ersten Sportler wagen sich aufs Eis. Vor der Mainau testen Motorradfahrer ihre Geschicklichkeit auf dem spiegelglatten Eis, bald werden Flugzeuge auf dem Eis landen und selbstgebaute Eissegler unterwegs sein.

Harte Zeit für Wasservögel
Am 30. Januar fällt das Thermometer auf minus 11 Grad. Der Konstanzer Trichter beginnt allmählich zuzufrieren. Noch sind Konstanz und der Seerhein eisfrei. Doch für die Schifffahrt am See wird es allmählich eng. Der Überlinger See hat sich in eine geschlossene Eisfläche verwandelt. Zwischen Überlingen und Dingelsdorf wird der Schiffsverkehr eingestellt. Auch im Hafen Bregenz können keine Schiffe mehr fahren. Am 5. Februar wird der gesamte Schiffsverkehr auf dem See eingestellt. Nur die Fähren fahren – noch. Die Menschen feiern derweil auf dem See. Vor Ludwigshafen am Überlinger See steigt eine Eisparty, 7.000 Menschen werden gezählt.
Schwäne werden gerettet
Seit fast vier Wochen friert der See zu. Für die am See überwinternden Wasservögel beginnt nun eine harte Zeit. In der Nacht zum 3. Februar schließt sich die Eisdecke auch in der Konstanzer Bucht und im Seerhein. Für die Wasservögel bedeutet eine lange Zeit geschlossene Eisfläche den sicheren Tod. In Konstanz beschließt das Rathaus einen spektakulären Evakuierungsplan. 70 Schwäne werden von Freiwilliger Feuerwehr und Technischem Hilfswerk eingefangen und im Schwimmbecken der Petershauser Schule und dem Schlachthof am Seerhein untergebracht. Meersburg evakuiert seine Schwäne ebenfalls nach Konstanz. Auch die anderen Wasservögel werden nicht vergessen. Helfer werfen aus einem Flugzeug entlang des Konstanzer Ufers 90 kg Rindertalg als Futter für die ausgehungerten Vögel ab.
Schiffsverkehr wird eingestellt
Unterdessen werden für Fußgänger zwei Strecken zum Überqueren des Überlinger Sees frei gegeben: Von Überlingen nach Dingelsdorf und nach Wallhausen. Die Konstanzer Bucht hat sich in eine riesige Eis- und Spielfläche verwandelt, die von den Konstanzern ausgiebig genutzt wird. Am 5. Februar 1963 wird schließlich der gesamte Schiffsverkehr auf dem Obersee eingestellt. Zwei Tage später können auch die Fähren zwischen Meersburg und Konstanz nicht mehr fahren. Die Autofähre Hegau scheitert bei dem Versuch, das Eis im Fährehafen in Staad aufzubrechen. Die Jahrhundertkälte hat den See endgültig im Griff.
Die Seegfrörne hat auch seinen religiösen Höhepunkt: Am 12. Februar 1963 zieht nach 133 Jahren wieder eine Eisprozession über den See. Über 10.000 Menschen machen sich am Schweizer Ufer bei Münsterlingen und Güttingen auf und überqueren den See in Richtung Hagnau auf deutscher Seite.

Tod auf der Eisscholle
Die Eiszeit fordert auch ihre Opfer. Am 23. Februar suchen neun Hubschrauber und Flugzeuge auf dem Obersee nach zwei 13 und 15 Jahre alten Schülern aus Friedrichshafen. Die beiden Jungen waren am Abend zuvor auf einer Eisscholle abgetrieben worden. Doch der dramatische Wettlauf mit dem Tod ist vergebens: Die beiden Schüler werden tot auf einer Eisscholle entdeckt – wenige Kilometer vor dem rettenden Ufer in Güttingen. Insgesamt fordert die Seegfrörne vier Todesopfer.
Im Gegensatz zu dem Gedicht „Der Reiter und der Bodensee“ von Gustav Schwab muss allerdings kein Reiter den Ritt über den zugefrorenen See mit seinem Leben bezahlen. Von Georg Stärr, der am 12. Februar 1963 als erster Reiter über den zugefrorenen Bodensee ritt, werden sogar Postkarten gedruckt. Stärr reitet die 8 Kilomter lange Strecke Hagnau – Münsterlingen zwei Mal und führt dabei die Eisprozession übers Eis.
Der See als Landepiste
Sei es zu Fuß, im Auto, auf dem Pferd, mit Schlittschuhen oder dem Fahrrad: Die spiegelglatte Eisfläche übt eine geradezu magische Anziehungskraft auf die Menschen aus. Und nicht nur am See. Die Seegfrörne ist eine Attraktion weit über die Region hinaus. Der Bürgermeister von Nonnenhorn erkennt den Werbeeffekt und stellt rund 11.000 Eiswanderern eine „Eiswanderbescheinigung“ aus. Am Wochenende des 2. und 3. März 1963 machen sich wieder Zehntausende auf, um bei herrlichem Märzsonnenschein den See zu überqueren.
Während Schiffe schon seit Wochen nicht mehr auf dem zugefrorenen See fahren können, ist er für Flugzeuge zu einer Landepiste geworden. Ein Lindauer Fotograf transportiert mit seinem Sportflugzeug „Eisflugpost“ von Lindau nach Konstanz. Doch die Märzsonne lässt erahnen, dass es mit der Seegfrörne bald vorbei sein wird. Am Vormittag des 10. März überqueren die letzten beiden Eiswanderer den Obersee von der Schweiz nach Nonnenhorn. Auch am Untersee und Seerhein werden die Eiswege von den Behörden aufgehoben.
Das Eis schmilzt jetzt rasch ab und am 15. März kann auch die Autofähre den Betrieb wieder aufnehmen. Die „kleine Eiszeit“ von 1963 ist endgültig Geschichte.