Rund 270.000 Menschen erleiden jedes Jahr einen Schlaganfall, heißt es bei der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Das sind mehr als 700 Menschen pro Tag – und zwar allein in Deutschland. Der Weltschlaganfalltag am 29. Oktober soll über die Ursachen aufklären und so zur Prävention beitragen. Zum Aktionstag haben wir mit Prof. Dr. med. Hubert Kimmig, Direktor der Klinik für Neurologie des Schwarzwald-Baar Klinikums (rundes Bild) gesprochen. Im Interview erklärt der Experte, an welchen Symptomen man einen Schlaganfall erkennt, warum bei der Behandlung jede Sekunde zählt und warum auch junge Menschen betroffen sein können.

Dr. med Hubert Kimmig
Dr. med Hubert Kimmig Bild: Schwarzwald-Baar-Klinikum VS

Wie kommt es zu einem Schlaganfall? Was passiert da im Körper?

Prof. Kimmig: Bei einem Schlaganfall kommt es im Bereich der ins Gehirn führenden Arterien zur Bildung eines Blutklumpens, einem so genannten Thrombus, oder zur Abschwemmung eines Kalkbrockens, was im weiteren ein kleineres Hirngefäß verschließt. Die dahinterliegenden Nervenzellen können nicht mehr versorgt werden, stellen ihre Funktion ein und sterben ab. Es kann aber auch im Bereich der Hirngefäße eine kleine Arterie einreißen, sich Blut diffus ins Hirngewebe vorwühlen und dadurch eine vergleichbare Schädigung verursachen.

Und was kommt häufiger vor?

Ursache für Schlaganfälle sind in 80 Prozent Durchblutungsstörungen und in 20 Prozent Hirnblutungen. Bei den Durchblutungsstörungen wird ein Drittel durch Verkalkungen der großen und mittelgroßen Gefäße, wie der Halsschlagader, verursacht, ein Drittel entsteht durch Veränderungen der kleinsten Gefäße im Gehirn selbst und ein Fünftel durch Ursachen im Herzen, wie Herzrhythmusstörungen oder Klappenveränderungen. Bei den Hirnblutungen liegt meist eine arterielle Hypertonie, das heißt Bluthochdruck zugrunde. Seltener spielen medikamentöse Blutverdünnung oder Gefäßmissbildungen eine Rolle. Ursache für Verkalkungen ist häufig ein hoher Blutdruck.

Was sind demnach die Risikofaktoren für einen Schlaganfall?

Die wichtigsten Risikofaktoren sind Bluthochdruck, Nikotinkonsum, Diabetes mellitus, zu hohe Cholesterinwerte, mangelnde Bewegung, schlechte Ernährung, Übergewicht und auch Herzerkrankungen.

Laut der Schlaganfall-Hilfe rechnen Experten in den kommenden Jahren sogar noch mit steigenden Patienten-Zahlen. Woran liegt das?

In den Jahren 2040 bis 2050 wird mit den Babyboomer-Jahrgängen der 1960er- und 1970er-Jahre der Gipfel der Alterspyramide erreicht. Bis dahin wird die Zahl der alten Menschen und damit auch die Häufigkeit der Schlaganfälle zunehmen.

Alter ist also ein Risikofaktor. Doch scheinbar erleiden auch junge Menschen immer häufiger einen Schlaganfall. Können Sie das bestätigen?

Es gibt Registerstudien, welche auf Diagnose-Kodierungen von Krankenhäusern beruhen, die einen solchen Trend nahelegen, unter anderem aus den USA, Schweden und Frankreich. Die Ursachen sind nicht ganz geklärt, es könnte auch sein, dass zum Beispiel die frühere und intensivere Diagnostik mit verbesserter Bildgebung, insbesondere die MRT-Kernspintomografie, heutzutage sehr viel häufiger auch leichte Schlaganfälle gerade bei den jüngeren Patienten nachweist, was vor 10 bis 20 Jahren in der Form noch nicht möglich war. Unter jüngeren Patienten verstehen wir Patienten im Alter von 18 bis 50 bzw. 55 Jahren.

Altersbedingte Krankheiten wie Bluthochdruck sind hier wohl nicht die Ursache. Was könnten dann Risikofaktoren sein?

Bei Patienten von 18 bis 35 Jahren stehen an Ursachen insbesondere angeborene Herzfehler, genetisch bedingte Blut-Gerinnungsstörungen, spontane oder durch Bagatelltraumen entstehende Gefäßeinrisse, sogenannte Dissektionen, und zum Teil sehr seltene Ursachen im Vordergrund. Bei den 35- bis 50-Jährigen kann dies ebenfalls eine Rolle spielen. Vermehrt kommen hier aber auch die klassischen Ursachen wie Gefäßverkalkung und Herzrhythmusstörungen ins Spiel.

Welche Rolle spielt die Anti-Babypille?

Bei den jungen Frauen zwischen 18 und 35 Jahren spielt das Risiko Pille, insbesondere in Kombination mit Rauchen sowie dem Risikofaktor Migräne mit Aura eine besondere Rolle. In diesem Alter sind Frauen auch etwas häufiger vom Schlaganfall betroffen als Männer. Schwangerschaft und Entbindung erhöhen ebenfalls das Risiko für einen Schlaganfall leicht.

Können Schlaganfall-Patienten ihre gewohnte Lebensqualität nach der Behandlung komplett wiedererlangen?

Ja, das ist möglich, hängt allerdings von vielen Faktoren ab. Die Zeit spielt hier die wichtigste Rolle. Die Durchblutung im Gehirn muss schnellstmöglich wiederhergestellt werden.

Warum spielt die Zeit die wichtigste Rolle?

Nervenzellen sind sehr empfindlich gegenüber Sauerstoff- und Nahrungsmangel. Bei vollständiger Unterbrechung der Versorgung sterben Nervenzellen nach wenigen Minuten ab. Je länger man wartet, umso mehr Nervenzellen gehen zugrunde. Das heißt: umso größer wird der Schlaganfall und umso schwerer wiegen die Ausfälle, wie etwa Lähmungen. Häufig werden die Nervenzellen aber durch benachbarte Blutgefäße über sogenannte Kollateralen noch eine gewisse Zeit mitversorgt, dadurch ist es möglich auch nach mehreren Stunden noch gute Ergebnisse zu erzielen. Kollateralgefäße sind häufig individuell unterschiedlich ausgeprägt, wenn keine Kollateralgefäße zur Verfügung stehen sind die Chancen für ein gutes Ergebnis schlecht.

Wie erkennt man einen Schlaganfall?

Die häufigsten Symptome sind halbseitige Lähmungen, zum Beispiel die rechte Gesichtshälfte, der rechte Arm, das rechte Bein, halbseitige Gefühlsstörungen, wie ein Kribbeln, Ameisenlaufen oder ein Taubheitsgefühl, Sprachstörungen, Schluckstörungen, plötzliche Erblindung eines Auges oder Doppelbilder. Wichtig zu wissen: Die Symptome treten in der Regel schmerzlos und plötzlich auf, quasi schlagartig. Sie können sich nach kurzer Zeit auch wieder zurückbilden, als sogenannte TIA (Anmerkung der Redaktion: TIA steht für Transitorische ischämische Attacken). Sie sollten sehr ernst genommen werden und zu sofortiger Untersuchung Anlass geben, da sonst womöglich der große Schlaganfall wenige Stunden später eintritt.

Der Schlaganfall ist neben Herzinfarkt und Krebs eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland. Doch nicht jeder Schlaganfall-Patient stirbt. Wie gut sind die heutigen Behandlungsmöglichkeiten?

Die Therapie gliedert sich in vier Teile: verschlossenes Gefäß wiedereröffnen, teilgeschädigtes Hirngewebe retten, Schutz vor weiteren Schlaganfällen und Funktion wiederaufbauen. Insbesondere die Methoden, um ein verschlossenes Gefäß wieder zu eröffnen, haben sich in den vergangenen Jahren dramatisch verbessert. Begonnen hat dies mit der Einführung der medikamentösen Auflösung von Blutklumpen durch die sogenannte intravenöse Lysebehandlung. Für diese Behandlung steht allerdings nur ein sehr kurzes Zeitfenster nach Auftreten der Symptome zur Verfügung, in der Regel 4,5 Stunden von Symptombeginn bis zur Infusion.

Haben sich auch neue Methoden bewährt?

Furore machte in den vergangenen wenigen Jahren die mechanische Thrombektomie, das heißt das Heraussaugen oder -ziehen von Blutklumpen mittels Kathetertechnik. Diese Methode kann fantastisch wirksam sein bei Verschlüssen von mittelgroßen und großen Hirngefäßen. Auch hier spielt die Zeit eine wesentliche Rolle, in der Regel sechs Stunden von Symptombeginn bis zur mechanischen Thrombektomie. Häufig werden beide Maßnahmen kombiniert, auch schwerst betroffene Patienten können im günstigen Fall dadurch symptomfrei werden.

Wie kann man einem Schlaganfall vorbeugen?

Vorbeugend sind regelmäßiger Ausdauersport, wie schnelle Spaziergänge, Wandern oder Nordic Walking, eine gesunde, ausgewogene Ernährung, unter anderem durch mediterrane Kost mit Olivenöl, Fisch, Obst und Gemüse, der Verzicht auf Nikotin sowie die regelmäßige Kontrolle von Blutdruck und Blutwerten.