Es war der 1. Februar 1963. Dieses Datum ist in die Geschichte der Bodensee-Schifffahrt eingegangen. Von da an wurde nämlich das letzte Mal die Schifffahrt auf dem See komplett eingestellt, weil der Bodensee nahezu vollständig zugefroren war. Die einzigen Schiffe, die noch fuhren, waren die Fähren zwischen Meersburg und Konstanz, die im wahrsten Sinne des Wortes als Eisbrecher im Einsatz waren. Doch auch sie froren schließlich am 6. Februar 1963 endgültig in den Häfen ein. Noch heute erzählen Zeitzeugen mit leuchtenden Augen von der so genannten Seegfrörne.

Walter Baerens
Einer, der das Jahrhundertereignis nicht nur miterlebt hat, sondern für die Nachwelt Fotos und vor allem Video-Aufnahmen gemacht hat, war Walter Baerens aus Hagnau. Unter anderem er hat damals dafür gesorgt, dass die Seegfrörne von 1963 unvergessen bleibt. Der damals 35-jährige gelernte Elektroinstallateur war fast täglich mit seiner Foto- und Filmkamera unterwegs und hat um den gesamten See herum dokumentiert. 2017 ist Walter Baerens mit 90 Jahren gestorben. Wenige Jahre vor seinem Tod gab er damals Seewoche-Redakteur Reiner Jäckle einen exklusiven Einblick in sein Archiv und stellt ihm sein Material zur Verfügung.
Und der Hagnauer hatte jede Menge zu erzählen: „Ich war im Dezember oder Januar mal auf der Mainau“, erinnerte er sich. „Da habe ich bereits so viel Eis gesehen, dass ich es schon geahnt habe, dass der See zufrieren könnte.“ Kurze Zeit später ging er zu einem Fotogeschäft und fragte, ob er eine Filmkamera ausleihen könne. Er bekam eine Doppelacht-Kamera und sollte damit Bilder für die Ewigkeit drehen.

„Ich weiß noch ganz genau, als ich mit meiner Frau zum ersten Mal den See zwischen Reichenau und dem schweizerischen Mannenbach überquerte“, erzählte er damals. „Das Eis war lediglich zweieinhalb Zentimeter dick und es knackte und wackelte extrem.“ Im Nachhinein sei ihm erst klar gewesen, welcher Gefahr er sich und seine Frau ausgesetzt hatte. „Ich habe meiner Frau erst am Ziel gesagt, wie dick das Eis wirklich war“, sagte Walter Baerens mit einem verschmitzten Grinsen. „Sonst wäre sie wohl nicht mitgegangen.“

Mehr als minus 20 Grad
Damals wurde das Eis täglich dicker. Die Temperaturen sanken bis unter minus 20 Grad. Der Hagnauer war auch an der Fähre: „Es war beeindruckend, wie die Fährschiffe das Eis gebrochen haben“, erzählte er. „Teilweise waren keine 20 Meter neben den Schiffen bereits die ersten Fußgänger auf dem See unterwegs.“ Der 7. Februar 1963 war dann das Datum, an dem der Bodensee schließlich komplett zugefroren war.
Alltag auf dem Bodensee
Das Leben spielte sich plötzlich größtenteils auf dem Bodensee ab. So gelang es dem Hobby-Fotografen und Filmer kuriose und surreale Szenen festzuhalten. Schlittschuhläufer und Fahrradfahrer auf dem Eis gehörten zum Alltag. Manchmal wurden auch Motorräder gesehen. Es gab sogar immer wieder ganz Waghalsige, die sich trauten, mit dem Auto den direkten Weg von der Schweiz nach Deutschland einzuschlagen. Auch Walter Baerens war damals mit seinem Renault R1120 R 4L und seiner Familie regelmäßig auf dem Eis. Von Lindau nach Wasserburg fuhren sogar Lastwagen den direkten Weg auf die Insel. Es kam sogar vor, dass ab und zu ein kleines Sportflugzeug vor Friedrichshafen und Lindau auf dem See startete und landete, und vor Überlingen landete an einem Februarsonntag ein Segelflugzeug.

Die Eisprozession
Außerdem gibt es eine Seegfrörne-Tradition: die Eisprozession zwischen Hagnau und Münsterlingen. Seit 1573 wurde jedes Mal, wenn der Bodensee zugefroren war, die Büste des Heiligen Johannes von der einen Gemeinde zur anderen quer über den See getragen. Danach blieb sie so lange in der anderen Seegemeinde, bis das Eis das nächste Mal kam.
Am 12. Februar 1963 fand dieses Spektakel zum bislang letzten Mal statt: Es kamen bis zu 3000 Pilger aus Münsterlingen und holten die Büste in Hagnau ab. Bis heute steht sie in der dortigen Pfarrkirche des ehemaligen Benediktinerklosters. Und sie wird so lange dort stehen, bis der Bodensee das nächste Mal zufriert. Lediglich zum 50. Jubiläum der Seegfrörne 2013 war sie für etwa ein Jahr in Hagnau in einer Ausstellung zu sehen.

Die Büste des Heiligen Johannes
Mittendrin war natürlich auch Walter Baerens mit seiner Kamera. „Es war schon ein unglaubliches Bild, als diese Menschenmassen auf dem direkten Weg über den See kamen“, erinnerte er sich. Er sah schon von weitem die Pilger, wo sonst eigentlich nur Schiffe unterwegs waren. „Ich habe mir für diesen Tag extra frei genommen, damit ich das Ganze auch filmen und fotografieren konnte.“ Er kletterte dazu auf einen Ramm-Mast eines Arbeitsschiffes, das an der Hagnauer Brücke eingefroren war, damit er eine gute Sicht auf das Geschehen hatte. „Tausende von Schaulustigen verfolgten die Eisprozession. Außerdem hat Hagnau bis dahin noch nie so viel Autoverkehr erlebt“, sagte Walter Baerens.

Einkaufen in der Schweiz
Das Leben spielte sich aber rund um den See auf dem Eis ab. „Vor Meersburg war das Eis teilweise so glatt, dass man sich mit Hilfe eines Regenschirms mit dem Wind mitziehen lassen konnte“, erinnerte sich der Hagnauer. Und das Einkaufen in der Schweiz war ein Kinderspiel, denn der Weg war plötzlich um ein Vielfaches kürzer. Das Auto blieb zuhause, die meisten schnappten sich den Schlitten und liefen einfach dorthin.

Als es wieder wärmer und das Eis langsam aber sicher brüchig wurde, ähnelte das Bodenseeufer ein klein wenig der Antarktis. „Es türmten sich durch die Strömung an den Ufern teilweise bis zu vier Meter hohe Eisberge auf“, berichtete Walter Baerens, der mittendrin war und von der Spitze aus filmte. „Das war natürlich nicht ganz ungefährlich, weil sich das ganze Eis ständig bewegte.“ Wäre er oder jemand anderer mit dem Fuß zwischen die mächtigen Eisplatten geraten, wäre das Bein regelrecht zerquetscht gewesen. „In diesen Situationen hat man die unglaubliche Naturgewalt direkt vor Augen gehabt“, sagte er.

Jede Menge Filmmaterial
Erst am 15. März 1963, also mehr als einen Monat, nachdem der Bodensee komplett zugefroren war, war es so weit und der Linienverkehr zwischen Konstanz und Meersburg konnte wieder aufgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Walter Baerens insgesamt 15 Rollen Filmmaterial. Auf jeder Rolle war Platz für eine Viertelstunde. Und damals galt noch mehr als heute, dass nach dem Dreh die Arbeit erst richtig begann. Denn die Nachbearbeitung war noch aufwändiger als heute. „Ich habe sicherlich an die zwei Monate bearbeitet, geschnitten und damals auch noch geklebt“, erzählte Walter Baerens. Sein Material wurde bereits mehrfach im Fernsehen gezeigt.
Walter Baerens
Der 1927 geborene Hagnauer war gelernter Elektroinstallateur. Bereits mit zwölf Jahren hat er mit dem Fotografieren begonnen. Es wurde zu seiner großen Leidenschaft. Die Kamera war weltweit sein ständiger Begleiter. Viele seiner Fotos sind heute in Büchern zu sehen. Zu einigen Anlässen hat sich Walter Baerens sogar eine Filmkamera ausgeliehen, mit der er Videosequenzen festhielt. So war er unter anderem 1963 bei der Seegfrörne und der letzten Fahrt des Dampfschiffes Überlingen dabei wie auch beim Bodensee-Hochwasser 1965.
Fakten der Seegfrörne 1963
Januar: Temperaturen fallen teilweise unter -20 Grad.
15. Januar: Erste Wege am Untersee über das Eis wurden freigegeben.
1. Februar: Schifffahrt auf dem Überlinger See wird eingestellt.
5. Februar: Schifffahrt auf dem Obersee wird eingestellt.
6. Februar: Zwei Gruppen erreichen von Hagnau aus das Schweizer Ufer.
7. Februar: Fähre Meersburg – Konstanz wird eingestellt.
7. Februar: Der See konnte auf etwa 20 Routen überquert werden.
9. Februar: Fähre Friedrichshafen – Romanshorn wird eingestellt.
12. Februar: Zwischen Münsterlingen und Hagnau findet die Eisprozession mit mehreren Tausend Personen statt.
2./3. März: An diesem Wochenende überquerten mit mehreren Tausend Passanten aus der Schweiz, Österreich und Deutschland die meisten Menschen während der Seegfrörne den See.
15. März: Die Fähren zwischen Meersburg und Konstanz fahren wieder.
7. April: Die Fähren Friedrichshafen – Romanshorn fahren wieder.
Ende April: Die letzten Eisschollen auf dem Bodensee sind geschmolzen.