Wolfgang Mettler (71) prägt wie kaum ein anderer die Musiklandschaft in Konstanz. Seit 51 Jahren ist er Leiter des Streichorchesters Concerto Constanz, 15 Jahre lang stand er dem Stephans-Chor vor und seit 30 Jahren ist er Leiter des Sinfonischen Chors Konstanz. Wir sprachen mit ihm im Wochenend-Interview darüber, was ihm Musik bedeutet, und warum er lieber Dirigent als Sänger geworden ist.
Herr Mettler, ein Leben ohne Musik…
Wolfgang Mettler:... ist für mich nicht vorstellbar. Meine Mutter hat immer gesagt, ich hätte früher gesungen als gesprochen. Von Kindesbeinen an umgab mich Musik. Beide Eltern spielten im Mandolinenorchester Konstanz, das der Bruder meiner Mutter gründete und 40 Jahre lang leitete. Ein anderer Onkel väterlicherseits war zwar Innungsmeister der Schneiderinnung, verdiente aber mehr Geld mit Tanzmusik. Ich habe also E- und U-Musik gleichermaßen genossen. Mit sieben fing ich mit Klavierunterricht an.
Wieso haben Sie sich dann der Klassik verschrieben?
Prägend war mein erstes Symphoniekonzert. Als ich 12 Jahre alt war, ‚schmuggelte‘ mich Heinz Weber, Oboist der Südwestdeutschen Philharmonie und Freund meiner Eltern, ins Konzert. Der damalige OB Bruno Helmle saß bereits in Reihe 1, entdeckte mich, als ich vom Vorhang aus in den Saal schlich, und winkte mich zu sich. Ich dachte erst, ‚Oh weh, jetzt hat er mich erwischt!‘ ‚Wolfgang, setz dich neben mich‘, sagte Helmle, ‚meine Frau ist krank und du hast mich so toll an Fasnacht am Klavier begleitet.‘ Man spielte Dvoráks „Neue Welt“.
Und was hat es in Ihnen ausgelöst?
Es als ‚Doppel-Wumms‘ zu bezeichnen, wäre untertrieben. Ich war fix und fertig. Wenn man für Musik empfänglich ist, geht sie tief in einen hinein. Mir war klar, so ein Symphoniekonzert ist etwas Besonderes. Man schaut das Orchester an und staunt, wie alle musikalischen Fäden zusammenlaufen: Diese Begeisterung hat sich bis heute gehalten.
Wann wussten Sie, dass Musik Ihr Beruf wird?
Als ich ins Suso-Gymnasium ging, unterrichtete dort der legendäre Hermann Müller – „MuMü“s Unterricht hat mich sofort begeistert. Ab der Quinta wusste ich, ich werde Schulmusiker. Mir hat das Unterrichten große Freude gemacht und ich wusste, wenn ich nur zehn, 15 Prozent der Schüler für die Musik begeistern kann, ist es ein Erfolg. Das ging 40 Jahre gut.
Sie haben in Stuttgart und Tübingen Schul- und Musikwissenschaft studiert. Was hat Sie wieder nach Konstanz gezogen?
1970 fing ich mit dem Studium an und 1971 habe ich das Streichorchester Concerto Konstanz mitbegründet, außerdem habe ich auch im Stephans-Chor gesungen und ihn später übernommen. Ich wollte also unbedingt wieder nach Konstanz. Da ich damals noch unverheiratet war, sollte ich nach Aalen versetzt werden. Da habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, samt Schreiben des Erzbischofs und des Oberbürgermeisters. Das Oberschulamt kam zumindest meinem Wunsch entgegen, zumindest schnell nach Konstanz zu kommen und versetzte mich in eine Schule, die 300 Meter neben dem Stuttgarter Hauptbahnhof lag (lacht). Es war ein sehr nettes Kollegium, aber ich stellte trotzdem am zweiten Tag meinen Versetzungsantrag. Drei Jahre pendelte ich zwischen Stuttgart und Konstanz, bis ich 1978 in der Geschwister-Scholl-Schule anfangen konnte. Ich konnte anschließend den gesamten Fachbereich von der Pike auf aufbauen und Wolfgang Müller-Fehrenbach, damaliger Leiter der Abteilung Realschule mit Schwerpunkt Musik, war eine große Stütze für mich.
Welche musikalischen Meilensteine fallen Ihnen spontan ein?
Wenn ich mich so erinnere: An der Geschwister-Scholl habe ich den kompletten Messias aufgeführt, die Schöpfung von Haydn viermal mit dem Schulchor und der Philharmonie gespielt. Mit dem Stephans-Chor und dem Oratorienchor (ab 2004 Sinfonischer Chor, die Red.) habe ich das Verdi Requiem 1987 aufgeführt. Beide Chöre gemeinsam, das war etwas ganz Besonderes. Seit 1977 habe ich immer wieder mit der Philharmonie zusammengearbeitet. Wenn man daran zurückdenkt, wird einem ganz anders.
Wie sind Sie Leiter des Sinfonischen Chors Konstanz geworden?
Jeden Feiertag und fast jeden Sonntag war ich 25 Jahre erst als Sänger und dann als Leiter des Stephan-Chors beschäftigt. Es war toll, aber ich wollte auch etwas Neues wagen. Dann starb Erwin Mohr, der Leiter des Sinfonischen Chors, ganz tragisch sechs Wochen vor einer Aufführung und ich sprang in die Bresche. Ich habe mich dann bewusst für diesen zentralen, städtischen Chor entschieden und habe ein Exposé über meine Ziele angefertigt. Der Sinfonische Chor sollte ein städtischer Chor bleiben, aber mit größerem Augenmerk auf die Stimmen. Das hat sich positiv auf die Leistung ausgewirkt.
Wie haben Sie sich als Dirigent entwickelt?
Ich hatte das Glück sowohl Orchester wie Chor zu haben und schätzte immer die Teamarbeit. Durch die lange Arbeit mit dem Stephans-Chor habe ich gelernt, ökonomisch zu dirigieren, das war meine Schule. Heute bin ich rationaler am Pult, ich weiß, wann die Musiker einen Impuls brauchen.
Bald findet wieder eine gemeinsame Aufführung des Sinfonischen Chors und der Philharmonie statt. Das wegen Corona verschobene Oratorium „Die letzten Dinge“ von Louis Spohr. Wie haben Sie die Pandemie-Zeit erlebt?
Grauenhaft. Wir haben uns mit Zoom-Sitzungen beholfen. Man hatte 50, 60 Leute am Bildschirm, die man aber nicht singen lassen durfte, weil die Verzögerungen bei der Übertragung das unmöglich machten. Der Dirigent saß also vor einem schweigenden Chor. Wir haben dann Grundbildung gemacht, Gehörlehre und Intervalltraining. Im Stephanshaus konnten wir nicht mehr singen und wir saßen in der Kälte im Chorgestühl der Stephanskirche. Und es bleibt schwierig. Der Sinfonische Chor hatte 104 Mitglieder vor Corona, nach Corona 87, jetzt werden davon 56 singen, da sich Corona wieder aufbaut. Ich persönlich hatte Corona schon zweimal, bin viermal geimpft, glücklicherweise habe ich mich kaum krank gefühlt.
Das Oratorium von Spohr ist recht unbekannt. Lohnt sich ein Besuch?
Das haben sich die Chorsänger anfangs auch gefragt (lacht). Mittlerweile glühen sie aber. Louis Spohr wurde von der Rezeption vergessen, bis 2009 Dieter Zeh und die Irene Schallhorn eine neue Ausgabe vorlegten. Die hat unheimlich eingeschlagen. ‚Die letzten Dinge“ ist ein fantastisches Werk, das gerade erst entdeckt wird. Vom Niveau her ist Spohr mit Mendelssohn vergleichbar, er ist harmonisch ganz eigenwillig und hat eine Musik komponiert, die einen vom Sitz zieht. Wer kommt, kann sich übrigens noch auf eine kleine musikalische Überraschung freuen.
Apropos komponieren. Wann haben Sie damit angefangen?
Nach der Pensionierung habe ich angefangen, in der Schule hatte ich dazu keine Zeit. Da es für Streichorchester wenig unterhaltende Musik gibt, habe ich ein paar Tangos komponiert – Concertango Konstanzioso, die Freude machen sollen. Ich bin leider nicht Donaueschingen-verdächtig (lacht).
Sie sind auch als „Beethoven von Konstanz“ bekannt. Woran liegt das?
Wahrscheinlich an meinem Mostkopf (lacht). Als ich jünger und dünner war, war ich eher eine Kopie von Franz Schubert.
Singen Sie heute noch?
Ich habe die Stimmlage Gießkanne, meine Stimmlage ist ziemlich ramponiert. Ich bewegte mich zwischen hohem und mittlerem Bariton, deswegen war Chorleiter das einzig Richtige, da musste ich nicht singen.
Denken Sie auch mal daran, den Taktstock niederzulegen?
Ich weiß, dass dieser Tag kommt, aber Planungen gibt es nicht. Wenn ich merke, ich kann es geistig nicht mehr, dann bin ich sofort weg. Die künstlerische Auseinandersetzung ist so faszinierend, das wird nicht langweilig.
Sie haben viele Ehrungen erhalten, u.a. vor kurzem die Ehrennadel der Stadt Konstanz.
Das sind Alterserscheinungen (lacht). Ich bin hier geboren und habe mich hier eingebracht. Oft werde ich gefragt, wieso ich schon so lange z.B. das Concerto Konstanz dirigiere. Dann frage ich zurück: Wie ist es möglich, dass das älteste Orchestermitglied auch schon 44 Jahre dabei ist und sich jede Woche von mir malträtieren lässt? Musik erfüllt nicht nur mich, Musik ist eine Brücke!
All die Zeit, die Sie in die Musik gesteckt haben, war das familiär ein Problem?
Glücklicherweise nicht, denn meine Frau Lucia singt im Sinfonischen Chor, und hat mich fantastisch unterstützt. Wir haben uns übrigens ursprünglich auch dort kennengelernt.
Es wird oft von der Krise der Klassik gesprochen. Wie sehen Sie das?
Künste sehe ich als ein zwingend notwendiges Sensibilisierungsinstrument. Dass man zum Beispiel sozial Benachteiligte unterstützt, ist auch ein Ergebnis kulturellen Denkens und Empfindens. Was der Mensch aufgrund seines abstrakten Denkvermögens entwickelt hat, nennt man Kultur. Medizin, Bildung, all das gehört zur Kultur, und alle Künste sind ein wichtiger Teil davon. Man hat das Gefühl, dass immer weniger Menschen Klassik konsumieren, bzw. das kulturelle Wissen ginge zurück. Aber insgesamt sehe ich die Zukunft nicht so schwarz. Wir haben z.B. 1000 Musikschüler in Konstanz, die kommen auch gezielt ins Konzert. Die Köpfe der Konzertbesucher meiner Schülerzeit waren auch vorwiegend grau und weiß!
Konstanz ist eh untypisch. Eine Stadt dieser Größe besitzt ein Stadttheater und ein philharmonisches Orchester: Das gibt es nirgends sonst in Deutschland. Ich gehe davon aus, dass die Hochkultur gut überleben wird, vielleicht in kleinerer Dimension.
Die Fragen stellte Karin Stei
Erstaufführung „Die letzten Dinge“
Das Oratorium „Die letzten Dinge“ von Louis Spohr unter der Leitung von Wolfgang Mettler und unter Mitwirkung des Sinfonischen Chors Konstanz und der Südwestdeutschen Philharmonie findet am 13. November um 17 Uhr in der Gebhardskirche statt. Solisten: Christina Daletska – Sopran, Stefanie Iranyi – Alt, Johannes Petz – Tenor undThomas Gropper – Bass. Tickets unter
www.sinfonischer-chor-konstanz.de
oder Buchkultur Opitz Konstanz, Tel. 07531-914517.