Das verheerende Erdbeben in Syrien und der Türkei hat es wieder gezeigt: Es gibt bislang kein zuverlässiges Frühwarnsystem, mit dem vor einer solchen Naturkatastrophe gewarnt werden kann. Oder vielleicht doch? Können Tiere vielleicht Erdbeben vorab spüren? Es gibt weltweit viele Hinweise und Geschichten von unruhigen Vögeln vor einem Vulkanausbruch, Schlangen, die vor einem Erdbeben aus ihrem Winterschlaf erwachen, oder Erdkröten, die sich mitten in der Laichsaison vor einem schweren Beben verkriechen. Haben Tiere einen sprichwörtlichen „siebten Sinn“?
Tiere mit Sendern ausgestattet
Forscher vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie (MPI-AB) in Konstanz unter der Leitung von Prof. Martin Wikelski forschen seit längerem an einem solchen „tierischen“ Frühwarnsystem. Nach einem Erdbeben nahe der italienischen Stadt L‘Aquila im April 2009 statteten die Wissenschaftler sechs Kühe, fünf Schafe und zwei Hunde auf einem Bauernhof inmitten einer Erdbebenregion in Norditalien mit Beschleunigungssensoren am Halsband aus und zeichneten deren Bewegungen über Monate hinweg auf. Am Ätna lebende Ziegen wurden ebenfalls mit Sendern ausgestattet. 2012 konnten die Wissenschaftler insgesamt sieben größere Ausbrüche anhand ihrer Daten im Nachhinein „vorhersagen“. Je näher die Tiere dem Epizentrum eines bevorstehenden Bebens waren, desto früher verhielten sie sich auffällig.
Bislang ist die Datenlage noch zu dünn für ein „tierisches“ Frühwarnsystem. Die Anzahl der Tiere ist zu gering für eine belastbare wissenschaftliche Aussage. Das könnte sich bald ändern. Denn jetzt haben sich das Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie mit der Firma Tractive, einem weltweiten Anbieter von GPS- und Wellnes-Tracking-Lösungen für Hunde und Katzen, zusammengetan, wie diese Woche mitgeteilt wurde. Die Daten von fast einer Millionen Haustiere weltweit wollen die Forscher nun auswerten, um neue Erkenntnisse über das Verhalten von Haustieren zu gewinnen.
„Haustiere leben dort, wo Menschen leben, und das globale Netzwerk von Tractive wird essenziell zur Beantwortung der Frage beitragen, ob Tiere nützliche Informationen für Katastrophenfrühwarnsysteme liefern können“, so Wikelski. Dazu wird ein KI-Algorithmus entwickelt, der auf Basis der in Echtzeit übermittelten Tieraktivitätsdaten der Tracker berechnen soll, ob Hunde und Katzen als Frühwarnsystem dienen können. „Wenn wir sehen, dass sich Hunderte von Haustieren an einem Ort ungewöhnlich verhalten, dann gehen wir davon aus, dass dort in naher Zukunft ein größeres Naturereignis stattfinden wird“, meint Wikelski. „Deshalb ist diese Partnerschaft mit Tractive ein wichtiger Schritt. Zum ersten Mal haben wir die Möglichkeit, dieses Verhalten bei so vielen Tieren an verschiedensten Orten weltweit gleichzeitig zu untersuchen.“
Und die Frage, ob Tiere einen „siebten Sinn“ für Naturkatastrophen haben, könnte von den Konstanzer Forschern vielleicht schon bald beantwortet werden.