Sie ist 32 Jahre alt, Ukrainisch-Lehrerin und zurück in ihrer alten Heimat Odessa – doch sie ist eine andere, denn sie hat die Hölle auf Erden hinter sich: Kateryna Erskaya erlebte drei Wochen lang die Bombardierung der ukrainischen Hafenstadt Mariupol im Osten des Landes. Sie sah Leichen auf den Straßen und Panzer, die Jagd auf die noch Lebenden machten. Früher war die Stadt Heimat für 400.000 Menschen. Eine sonnige Stadt am Ufer des Asowschen Meeres, an dem Ehepaare Händchen haltend durch die Straßen der Stadt gingen und Kinder spielten und lachten.

Zerstörte Idylle

Jetzt wird nicht mehr gelacht. Kinder haben das Lächeln verloren. Anstelle von Paaren fahren Panzer durch die Straßen und die Höfe der Wohnungen sind zu Massengräbern geworden und haben sich zu provisorischen Friedhöfen verwandelt. Kateryna Erskaya zog erst an Weihnachten im vergangenen Jahr mit ihrem Mann nach Mariupol. Er wurde als Polizist dorthin versetzt; nur zwei Monate vor dem russischen Angriff.

Freiwillige Helferin

Die Idylle verwandelte sich schlagartig in einen Alptraum. Die 32-Jährige versteckte sich in dieser Situation keinesfalls, stellte sich tapfer als Freiwillige zur Verfügung und half dabei, Verwundete zu retten. Kateryna Erskaya hat die Stadt erst verlassen, als die russischen Panzer die Grenze durchbrachen und begannen, auf der Straße nach Menschen zu suchen.

Bomben auf das Schauspielhaus

Sie lebte mit ihrem Mann in der Peace Avenue mit Blick auf das Schauspielhaus. Nachdem Bomben abgeworfen wurden, existiert die Peace Avenue aber nicht mehr. Es gibt auch kein Schauspieltheater mehr. Menschen, die sich im Luftschutzbunker des Schauspielhauses versteckt hatten, überlebten die Attacke; die, die sich im Gebäude aufhielten, hatten weniger Glück. Kateryna Erskaya sagt das Gegenteil: „Ich war drinnen, ich hatte Glück. Es gab keine Soldaten, es gab lediglich verängstigte Frauen, Kinder und ältere Menschen, die kein eigenes Transportmittel hatten, um über den grünen Korridor, der am 15. März geöffnet wurde, aus der Stadt zu kommen.“

Hier ist der Einschuss in die Autokarosserie zu sehen. Diese Kugel hätte Kateryna Erskaya fast getötet.
Hier ist der Einschuss in die Autokarosserie zu sehen. Diese Kugel hätte Kateryna Erskaya fast getötet. Bild: Privat

Die Flucht

Dieser Bombenhagel und die vielen Opfer veranlassten auch die 32-Jährige, Mariupol zu verlassen. „Ich bin am Tag, nachdem es möglich wurde, losgefahren“, berichtet sie. „Da waren ein männlicher Fahrer, eine Frau mit zwei Kindern und ihre Großmutter in unserem Auto.“ In der Nähe der Stadt Tokmak, wo es feindliche Checkpoints gab, die passiert werden mussten, wurde das Auto mit Maschinengewehren beschossen. „Dies wurde von Menschen in Militäruniform durchgeführt, die unter der blau-roten Flagge am Kontrollpunkt standen“, betont sie. „Sie sahen das Auto in einer friedlichen Kolonne fahren.“

Angriff am Checkpoint

Frauen und Kinder wurden bei diesem Angriff getötet. „Bei uns im Auto erlitt ein zwölfjähriges Mädchen eine Schusswunde“, erzählt Kateryna Erskaya. „Sie wurde bewusstlos.“ Da forderte sie den Fahrer auf, umzudrehen, um zum Checkpoint zurückzufahren, um das Mädchen versorgen zu lassen. „Ich haben die dort stehenden Tschetschenen um einen Arzt gebeten“, erinnert sie sich. „Dann brachten wir das Mädchen in die Dienststelle des russischen Kommandanten, die in Tokmak eröffnet wurde.“ Ein Kinderarzt schaute nach dem Kind und attestierte einen „ernsten Zustand“. Die Zwölfjährige wurde nach Zaporozhye verlegt und konnte dort gerettet werden. Ihre Schwester, Mutter und Großmutter kamen mit.

Diese Familie hatte eine Schildkröte namens Matilda dabei. „Ich hatte ihre Katzen, Musya und Busya, in meinen Armen“, so Kateryna Erskaya. Die Familie hat die Katzen von der Straße geholt. „Bei der Attacke retteten sie mir quasi das Leben“, erzählt die 32-Jährige. „Als auf uns geschossen wurde, bückte ich mich instinktiv über die Katzen, um sie zu schützen. Eine Kugel ging direkt über meinen Kopf und schlug in der Karosserie ein.“

Weniger Glück hatte der Fahrer, der ebenfalls verletzt wurde: Er bekam mehrere Glassplitter in sein Auge. Er schaffte es aber, das Auto weiterzufahren. „Ich richtete mich nach dem Beschuss auf und öffnete die Tür, um zu zeigen, dass wir alles Zivilisten waren und Verletzte im Auto hatten“, berichtet Kateryna Erskaya. „Mittlerweile geht es dem Fahrer wieder besser. Im Krankenhaus wurde sein Auge behandelt. Er wird weiterhin sehen können.“

Apokalyptische Kulisse

Mariupol ist praktisch dem Erdboden gleich gemacht. „Es tut mir weh, dass die Stadt so gut wie weg ist“, sagt Kateryna Erskaya. „Sie wirkt wie die Kulisse eines apokalyptischen Films, in dem auf die Straßen geschossen wird und Panzer fahren.“ Die restlichen Menschen, die noch dort sind, verstecken sich in Kellern und Luftschutzbunkern. Mehr als drei Wochen lang kommt die Stadt nun schon ohne Strom, Wasser und Gas aus. Es gibt nichts zu essen, denn ein bereitstehender humanitärer Konvoi darf Mariupol nicht betreten. „Das ist eine echte humanitäre Katastrophe“, betont Kateryna Erskaya.

Kochen über offenem Feuer

Als sie noch in der Stadt war, erlebte sie Dinge, die sie nie mehr vergessen wird: „Meine Nachbarn haben auf offenem Feuer gekocht.“ Sie sah einen Mann, der Tauben jagte und ihr erklärte, sie sei für seinen Hund, weil es kein Futter mehr für die Tiere gab. „Unweit meines Arbeitsplatzes gab es eine Zoohandlung, deren Tiere einfach ausgesetzt wurden“, so Kateryna Erskaya. „Wir mussten Türen und Fenster einschlagen, um Welpen, Kätzchen, Papageien und Würmer zu retten. Einige Tiere starben, darunter auch Fische.“

Kateryna Erskaya ist zurück in Odessa.
Kateryna Erskaya ist zurück in Odessa. Bild: Sergey Panashchuk

Viele tote Menschen

Es gab aber noch viel schlimmere Szenen: „Das Schlimmste waren die vielen toten Menschen, die einfach auf der Straße liegengeblieben sind, weil es niemanden gibt, der sie begräbt“, berichtet die 32-Jährige. „Als es in der Nähe meines Arbeitsplatzes zu Artilleriebeschuss und der Zerstörung eines Hauses kam, waren wir die ersten, die in den Trümmern nach Überlebenden gesucht haben.“ Es sei der „absolute Horror“ gewesen.

Als freiwillige Helferin wurde Kateryna Erskaya von Sanitätern in erster Hilfe geschult. Unter anderem auch in Wunden versorgen und nähen. Und sie musste dies auch anwenden. „Ich habe zum ersten Mal eine Wunde eines Menschen selbst nähen müssen. Es war nicht das Nähen selbst, was mir Angst machte, sondern die Notwendigkeit, den Mann jetzt freizulassen, weil er seine Angehörigen herausholen musste und nur er Auto fahren konnte.“ Beim Zusammennähen dachte sie: „Was ist, wenn die Naht aufgeht? Was ist, wenn ich nicht fest genug binde? Was passiert, wenn das Schmerzmittel aufhört zu wirken?“ Seine Verletzung war sehr schwer. Ihre Jacke war voller Blut.

Evakuierung Mariupols

Und die Situation in Mariupol wird nicht besser – im Gegenteil. Am Montagvormittag hat der Bürgermeister, Wadym Boitschenko, zur vollständigen Evakuierung der ukrainischen Hafenstadt aufgefordert. Es drohe eine humanitäre Katastrophe. Es seien zwar Busse für eine Evakuierung bereitgestellt. Russland habe aber keine freie Passage zugesagt.

Schwere Zukunft

Mittlerweile haben zehntausende Einwohner von Mariupol Angehörige verloren. Wer konnte, hat sie in Parks vergraben. Viele mussten sie in den zerstörten Häusern zurücklassen. Die Menschen sind Opfer eines Krieges geworden, den sie nicht begonnen haben. Keiner wollte dort, dass sie von der „russische Welt befreit“ werden, wie es die Angreifer formulieren. Sie wollten dort nur friedlich leben und die Stadt besser machen, so wie Kateryna Erskaya, die als Ukrainisch-Lehrerin arbeitete. Sie wollten neue Kindergärten, neue Schulen, neue Entbindungskliniken bauen, aber alles, was sie hatten, wurde zerstört. Es wird Jahrzehnte dauern, dies wiederaufzubauen.