Nach einer Berechnung des Statistischen Bundesamtes wird die Zahl der Einpersonenhaushalte von 17,3 Millionen im Jahr 2018 auf 19,3 Millionen im Jahr 2040 steigen. Damit wird knapp ein Viertel aller in Privathaushalten lebenden Menschen allein wohnen. Die Idee, in Gemeinschaft mit anderen zu wohnen und älter zu werden, wird zunehmend populär. Im Konstanzer Stadtteil Paradies, nahe der Schweizer Grenze, haben sich elf Frauen diesen Wunsch erfüllt.
Angefangen hat alles vor 20 Jahren mit drei Freundinnen, die für sich überlegten, wie sie künftig leben wollten. Eine Perspektive fanden sie im gemeinschaftlichen Wohnen. Vom Impuls bis zur Realisierung vergingen einige Jahre. Gründerfrau Tonie M. erinnert sich: „Wir hatten die Vorstellung gemeinsam, aber auch selbstbestimmt zu wohnen.“
Auf der Suche nach Vorbildern stießen die Initiatorinnen auf das Mietshäuser-Syndikat, das in Freiburg entstanden war und selbstorganisierte Mietshäuser in der Rechtsform der GmbH verwirklicht. Die Gruppe schloss sich dem Verbund von solidarisch wirtschaftenden Hausprojekten an.
Ein Grundstück, ein Haus ...
Nach Überwindung diverser Hindernisse gelang es, im Jahr 2008 ein Grundstück zu erwerben. Eine kleine Wohnungsbaugesellschaft, – die Paradies Wohn GmbH – wurde gegründet und der Bau in Angriff genommen. Bereits zwei Jahre später bezogen zehn Frauen zwischen 54 und 70 Jahren das neue Haus, das in der Nähe des Gottlieber Zolls im Stadtteil Paradies gelegen ist.
Für die interne Organisation, für Besprechung praktischer Fragen von der Gartengestaltung bis zu Reparaturen ebenso wie für die Geschäftsführung der GmbH wurden regelmäßige Treffen durchgeführt.
Die Gruppenmitglieder machten vielfältige Erfahrungen miteinander. „Den langen Atem, den es braucht, eine Gemeinschaft zu entwickeln, hatten viele nicht.“ So änderte sich mit der Zeit die Zusammensetzung der Gemeinschaft und schließlich auch das Konzept.
Öffnung für drei Generationen
Als vor acht Jahren eine junge Mutter mit Kind anklopfte und fragte, ob sie Gesellschafterin werden könne, stimmte die Hausgemeinschaft zu. Damit war die Richtung dafür eingeschlagen, was die Adresse Rosenlächerweg 2A heute ist: ein Mehrgenerationenhaus. Eine ganz neue Mitbewohnerin ist Stefanie S. mit ihren zwei Kindern. Die besondere Atmosphäre des Hauses hat sie sofort angesprochen, wie sie erzählt. Sie ist begeistert von dieser Art zu wohnen: „Hier habe ich nicht nur in der eigenen Wohnung das Gefühl in einem geschützten Raum zu sein, sondern im ganzen Haus und auch im Garten.“
Im Sommer treffen sich die Bewohnerinnen im Garten. Er ist grüne Oase und Spielplatz für die Kinder und auch die Katzen des Hauses. Bei kühlerem Wetter bietet der Gemeinschaftsraum die Möglichkeit für Gespräche, gemeinsame Feste, Spiele, Planungen und vieles mehr.
Aufgabe und Chance
Zu besprechen gibt es viel. Für die älteste Mitbewohnerin, Brunhild H., die seit acht Jahren hier wohnt, ein Pluspunkt. „Mitgestalten, mitplanen zu können, das kommt mir entgegen. Ich habe über 30 Jahre selbstständig gearbeitet, das kommt mir hier zugute.“ Seit sechs Jahren ist sie Geschäftsführerin der GmbH. „Mir war bewusst, dass hier auch andere Aufgaben warten, als ich mich vorgestellt habe“, sagt sie.
Dazu gehört auch, dass jede Bewohnerin Mentorin für eine andere Bewohnerin im Haus ist. Nicht nur im Notfall ist so direkte Unterstützung gewährleistet. „Wir sind auch unsere eigenen Hausmeisterinnen. 36 Stunden im Jahr hat jede Bewohnerin Gemeinschaftsaufgaben zu leisten“, sagt Tonie M. Sie gibt daher allen, die sich überlegen, in einer ähnlichen Organisationsform zu wohnen, zu bedenken, „dass es eine große Bereitschaft erfordert mitzugestalten, das gemeinsame Wohnen weiterzuentwickeln und gemeinsame Entscheidungen zu treffen.“
Das kann auch Gesellschafterin Sabine V. bestätigen, die seit über einem Jahr hier wohnt. „Ich habe über ein Internet-Portal von diesem Haus hier erfahren“, berichtet sie. Sie wohnte in einem 200 Quadratmeter großen Haus bei München. Der Wechsel auf eine der 11 Zwei-Zimmer-Wohnungen war daher nicht ganz leicht. Die Kinder erlebt sie als Bereicherung. Sie hat mit anderen bereits Bastelaktionen mit den Kindern organisiert und freut sich, wenn die Mütter entlastet werden können.
Gegenseitige Unterstützung, die Freude am Zusammenleben, gemeinsame Aktionen – das kennzeichnet das Wohnen hier.
Tonie M. freut sich darüber, „dass heute die Bandbreite an Wohnprojekten groß ist und dass die Öffentlichkeit diese Wohnform zunehmend akzeptiert. Es macht mich glücklich, dass solche Modelle mehr Rückenwind erhalten. In einer hochgradig individualisierten Gesellschaft ist dies ein Weg heraus aus der Vereinzelung hin zu mehr gelebter Solidarität.“
Mehr zum Projekt unter www.paradieswohn-gmbh.de
Anmerkung der Redaktion: Unsere Gesprächspartnerinnen wollten nicht mit vollem Namen genannt werden.
Kontakt
Begegnung im Paradies (ehemals WiB-Stammtisch): alle 2 Monate, nächstes Mal: 13.9.22 um 19 Uhr im Rosenlächerweg 2A, KN
Thema: Wein und Käse
Beratung zu selbst organisierten Hausprojekten gibt es bei Mietshäuser Syndikat
Internet: www.syndikat.org
Infos für das gemeinschaftliche Leben:
Einen Überblick über Mehrgenerationenhäuser in Baden-Württemberg gibt es hier:
www.seniorenportal.de/mehrgenerationenhaeuser-in-baden-wuerttemberg