Dass Licht schneller ist als Schall, ist allgemein bekannt. Deshalb sieht man auch den Blitz, bevor man den Donner hört. Auch der Krieg kann nichts an diesen Gesetzen der Physik ändern, außer dass man eine Explosion nicht immer sieht, dafür aber definitiv hören kann. Ich war am Samstag im Supermarkt, als ich zwei dumpfe Schläge hörte. Als ich nach draußen kam, hörte ich die schrecklichste Explosion meines Lebens. Es ist Krieg! Ich duckte mich instinktiv. Die Leute um mich herum sahen sich gegenseitig an, in ihren Augen war eine riesige Sorge, Angst und teilweise Verzweiflung zu erkennen.

Kontakt zu Familien
In den nächsten Sekunden zückten fast alle ihre Mobiltelefone und begannen, ihre Familien anzurufen. Ich konnte meine Mutter nicht erreichen. Ich versuchte weiter zu wählen, als ein Mädchen auf mich zukam. Sie war erschüttert. Sie bat mich, sie zu umarmen. Ich sagte, dass alles in Ordnung sein wird. Ganz ehrlich, es war ein Standardsatz, den man sagt, um jemanden zu trösten. Das ist eine Standardvorstellung, an die man während des Krieges glauben muss, um nicht den Verstand zu verlieren. Aber auch ich machte mir Sorgen, große Sorgen.
Erste zivile Opfer
Nach einer Weile habe auch ich meine Mutter erreicht – es ging ihr gut. Andere Menschen in Odessa hatten aber nicht so viel Glück. Eine davon ist Valeria Glodan. Die 27-jährige junge Mutter kümmerte sich gerade um ihre drei Monate alte Tochter Kira, als eine Kalibr, ein russischer Marschflugkörper, ihre Wohnung in einem mehrstöckigen Gebäude in Odessa traf. Sie hatten keine Chance. Auch die Mutter von ihr kam bei dem Angriff ums Leben. Insgesamt kostete er sechs Bewohnern des Gebäudes das Leben.

Einkauf als Lebensrettung
Ihr Mann Yury überlebte, weil er im Moment des Einschlages des Marschflugkörpers in den Supermarkt gegangen war, um Windeln für das Baby zu kaufen. Erst, als er wieder zurückkam, erfuhr er, was nur wenige Minuten vorher passiert war. Ein familiäres Drama mitten in Odessa. Insgesamt kamen bei diesem Angriff acht Zivilisten ums Leben und 18 wurden verletzt. Es sind die ersten zivilen Opfer der russischen Invasion in der südukrainischen Hafenstadt Odessa.
Ukrainische Luftabwehr
Russland feuerte den Kalibr-Marschflugkörper von einem russischen Bomber ab, der über dem Kaspischen Meer flog. Die Rakete legte mehr als 1500 Kilometer zurück. Insgesamt wurden acht dieser Tod bringenden Waffen abgefeuert. Einige davon konnten vom ukrainischen Luftabwehrsystem entschärft werden, aber dieser, der den Wohnblock von Valeria Glodan traf, leider nicht.
Präzise Waffe trifft Wohnblock
Getroffen wurden einmal mehr Zivilisten. Unter den Opfern war ein Baby, das erst einmal drei Monate alt war. Besonders makaber dabei ist, dass laut Angaben des russischen Verteidigungsministeriums der Marschflugkörper Kalibr eine sehr präzise Waffe sei. Man könne aus sehr großer Entfernung das Ziel sehr genau bestimmen. Da drängt sich die Frage auf, warum ausgerechnet der Wohnblock der Familie Glodan befeuert wurde.

Kein Waffenstillstand
Der Marschflugkörper kam zu einem denkbar fragwürdigen Zeitpunkt, denn in der Nacht von Samstag auf Sonntag feierten die orthodoxen Christen das Osterfest. Es ist der wichtigste religiöse Feiertag. Ein großer Teil der Ukrainer und die meisten Russen teilen dieselbe Religion. Trotzdem weigerte sich der russische Präsident Wladimir Putin wenigstens zu Ostern einen Waffenstillstand zu gewähren.
Putin feiert Ostern
Er war in einer Fernseh-Übertragung aus der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale zu sehen. Dort feierte er das Osterfest, hielt eine Kerze in der Hand und bekreuzigte sich mehrmals. Ein unerträgliches Bild, wenn man einen Tag nach dem schrecklichen Angriff vor dem Wohnblock in Odessa steht. Er hätte Leben retten können und Valeria Glodans Tochter ihr erstes Osterfest erlebt.

In In der Heiligen Nacht von Samstag auf Sonntag ertönten ein paar Mal die Fliegeralarm-Sirenen und Explosionsgeräusche. Russen schickten ihre Raketen in den Hafen von Yuzhny, 40 Kilometer von Odessa entfernt, wo giftige Chemikalien gelagert werden. Diesmal gelang es der ukrainischen Luftverteidigung, sie auszuschalten und weitere Todesfälle und Zerstörungen zu verhindern.
Ostern in Odessa
Trotz des Terrors kamen am nächsten Morgen Zehntausende Menschen in Odessa in die Kirchen, um das Osterfest zu feiern. Sie ließen ihre Brotkörbe segnen. Es war ein kleines Stück Normalität in einem auch exakt zwei Monate andauernden surrealen Alltag des Krieges. Der Geist der Stadt ist in Odessa noch lange nicht gebrochen.