Der mögliche Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine macht derzeit Schlagzeilen – auch in Deutschland. Doch wie ist die Stimmung direkt vor Ort? Bestimmt Kriegsangst den Alltag? Unsere Mitarbeiterin Lena Reiner, der freie Journalist Niklas Golitschek aus Bremen und ihr ukrainischer Kollege Sergey Panashchuk sind zurzeit im Land unterwegs, sogar bis direkt an die russische Grenze gereist und haben sich bei Einheimischen umgehört und umgeschaut.
Alltag im Einkaufszentrum
Charkiw, rund 40 Kilometer südlich der russischen Grenze gelegen, am letzten Januar-Donnerstag im Einkaufszentrum „Nikolsky Mall“: Ein hoher, hell beleuchteter, bunter Weihnachtsbaum ziert die Eingangshalle, es herrscht reges Treiben. An die Corona-Pandemie erinnern Hinweisschilder zum Masketragen, ein Mund-Nasen-Schutz verdeckt allerdings nur vereinzelt die Gesichter. Die Tische im gastronomischen Bereich sind dicht besetzt.

Vor dem Eingang in der Nähe eines leuchtenden Weihnachtssterns steht Aleksandr Litvinov. Er hört Musik und schaut dabei auf sein Handy, für ein kurzes Gespräch nimmt er die Ohrstöpsel heraus. Angst vor dem viel beschworenen Einmarsch der russischen Armee in seinen Wohnort, das mit mehr als 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine und ganz nebenbei eine IT-Hochburg ist, hat er keine, wie er sagt. Der 36-Jährige ist in Charkiw geboren und aufgewachsen. Dass er keine Angst hat, spiegelt sich auch in seiner Körpersprache wider: „Ich glaube nicht, dass dies passieren wird.“ Wieso er so denke „Ich halte die Aussage, dass Russland Charkiw einnehmen wird, für reinen Populismus.“
Anders geht es seinem Namensvetter Aleksandr Kaganovsky, der etwas näher an der Eingangstür steht. Besorgt schaut der 67-Jährige in die Kamera und seine Gesprächspartner an. „Natürlich mache ich mir Sorgen“, sagt er. Er wisse nicht, wieso all das passiere, sagt er, und er wiederholt: „Ich weiß es nicht.“ Aleksandr Kaganovsky schiebt hinterher: „Mit normaler menschlicher Logik kann man das nicht erfassen.“ Dennoch hoffe er, dass irgendwann der Frieden wiederhergestellt werden könne, erklärt er in Hinblick auf den inzwischen bald acht Jahre andauernden Stellungskrieg in den weitgehend besetzten Verwaltungseinheiten Luhansk und Donezk.

Der Freiheitsplatz von Charkiw
Etwa zwei Kilometer entfernt am Freiheitsplatz von Charkiw zieht eine Eisbahn Schlittschuhläufer an. Manche stehen offensichtlich zum ersten Mal auf den Kufen und hangeln sich am Geländer entlang. Andere fahren entspannt und sicher ihre Runden über die weiße Fläche. Dazu ertönt Musik, die noch weit über den Platz zu hören ist. Etwas weiter wird hier gerade ein Teil der Weihnachtsdekoration abgebaut. Die Arbeiten laufen auch nach Sonnenuntergang weiter. Richtig dunkel wird es hier ohnehin nicht, große Werbebildschirme erhellen den Platz.

Unbemerkte Militärwerbung
Werbeslogans aus den zugehörigen Lautsprechern wechseln sich aus zwei entgegengesetzten Richtungen ab, überschallen sich teilweise gegenseitig. Mittendrin, direkt an der Zufahrtstraße, steht ein Zelt, auf dessen Rückseite das Konterfei eines behelmten Soldaten zu erkennen ist. Um das Zelt herum stehen Stellwände mit Fotos von Soldaten und unterschiedlichen Plakaten mit Uniformierten. Trotz ihrer prominenten Platzierung gehen Zelt, Poster und Bilder auf dem Platz beinahe unter, so viel heller, lauter und bunter ist die übrige Werbung, die großflächig die umliegenden Gebäude ziert. Passanten gehen an dem Aufbau vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Knapp 250 Kilometer weiter in Popasna in der Verwaltungseinheit Luhansk, das unmittelbar in der Pufferzone der Kontaktlinie liegt und in der Vergangenheit bereits von schwerem Kriegsgerät getroffen wurde, gehören Soldaten zum Straßenbild. Doch auch sie erhalten, genau wie ihre Abbilder in Charkiw, keine besondere Aufmerksamkeit von den Einwohnern. Sie sitzen im Café, unterhalten sich vor dem Supermarkt oder tragen ihre Einkäufe über die Straße. Keine Viertelstunde Autofahrt von der Ortsmitte liegt der Friedhof, an der Kreuzung dorthin zeugt der Anblick einer Panzersperre von der angespannten Situation. Der nächste Ort befindet sich bereits unter Kontrolle der Separatisten, dazwischen bekämpfen sich beide Seiten. Dennoch herrscht auch hier so etwas wie Alltag.
Menschen gehen einkaufen, trinken ihren Kaffee an einem kleinen Imbiss, fahren Auto und Fahrrad, Kinder gehen an der Hand ihrer Mütter über die Straße. Seniorinnen ziehen ihren Einkauf mit Schlitten über die verschneiten Gehwege. Trotz ungemütlicher Temperaturen, Wind und Schneefall, sind die Straßen belebt.

Die Gedanken einer Mutter
Eine junge Mutter holt sich zum Aufwärmen einen Kaffee an der kleinen Imbissbude vor dem ATB-Supermarkt neben dem Kulturzentrum der Stadt. Ihr kleiner Sohn sitzt warm eingepackt im Kinderwagen, während sie sich die Hände an dem Pappbecher mit dem Getränk wärmt und ihre Kapuze enger zieht. Ihren Namen möchte sie nicht nennen und auch schnell weitergehen. Die Frage, ob sie Angst vor dem Krieg hat, beantwortet sie dennoch. „Ich versuche, nicht darüber nachzudenken“, sagt sie. „Aber wenn ich es dann doch tue, dann macht es mich verrückt.“
Falls es zu einem großflächigen Krieg komme, dann sei ihre größte Sorge, dass sie keinen sicheren Ort habe, an den sie sich zurückziehen könne. Es gebe zwar Schutzeinrichtungen vor Ort, aber die seien für sie und ihren Sohn ungeeignet: „Es ist gefährlich, mit einem kleinen Kind in einen Bunker zu gehen. Es gibt dort durch die mangelnde Belüftung nicht genug Luft für ein Baby.“ Dennoch werde sie vorerst nicht wegziehen, sondern in Popasna wohnen bleiben. Sie habe keinen anderen Ort, an den sie gehen könne, schließt sie und geht eilig weiter.

Schule als Schutzbunker
Einer der besagten Schutzbunker in Popasna ist zumindest von außen sehr kinderfreundlich gestaltet: Seine Wand ist von einer großen Malerei verziert. Die Farben leuchten in der verschneiten Landschaft. Auf einem Schild an der Mauer steht der kyrillische Schriftzug „Ukrittja“: Es ist das ukrainische Wort für Schutz. Etwas entfernt bellt ein Hund. Bis auf dieses Geräusch ist es still an dem Wintertag; die Gegend wirkt friedlich. Nur wenige Meter entfernt in derselben Straße zeugen allerdings die unverputzten Einschläge an der Wand mehrerer Wohnhäuser von vergangenen Kampfhandlungen.
Eine ganz besondere Ausstellung in Cherson
Die Auswirkungen des Krieges sichtbar machen und den betroffenen Menschen eine Stimme geben: Die ukrainische Sammlung des „War Childhood Museum“ (Museum der Kriegskindheit) umfasst derzeit 160 Interviews und Erinnerungsstücke von Kindern und Jugendlichen, die bei Beginn des Krieges in der Ukraine 2014 noch minderjährig gewesen sind. Derzeit ist eine Auswahl davon im Literatur-Museum in Cherson rund 100 Kilometer nordwestlich der von Russland annektierten Krim ausgestellt.

Täglich neue Geschichten
Iuliia Skubytska ist Direktorin des ukrainischen Ablegers, dessen Ursprünge in Bosnien und Herzegowina liegen. Gründer Jasminko Halilovic hat hier die Erinnerungen der damaligen Kriegskinder gesammelt, zu denen er selbst zählt. Bei ihm gab es allerdings einen entscheidenden Unterschied: Die Kampfhandlungen waren damals bereits mehr als zehn Jahre beendet. In der Ukraine kommen noch immer fast täglich neue Verletzte und Tote hinzu, ganz zu schweigen von den traumatisierenden Erlebnissen. „Manche leben seit acht Jahren unter Beschuss“, weiß die Historikerin Iuliia Skubytska. Auch für die Binnenflüchtlinge schreibe sie dieses Kapitel weiter fort.
Die Krim ist großes Thema
Die Themen, die die Ausstellungsbesucher mitbringen, seien hier andere als in der Hauptstadt Kiew. Hier drehe sich alles um die Krim. „Viele sind von dort hierhergekommen, sie haben Verwandte auf der Krim“, erklärt Iuliia Skubytska. „Man kann die Nähe zu der Halbinsel hier sehen.“. In der ukrainischen Hauptstadt habe der Fokus auf den besetzten Gebieten um Donezk und Luhansk gelegen.
Wichtig ist der Projektdirektorin, dass die Kinder nicht als Opfer oder in Stereotypen dargestellt werden. Sie sei außerdem vom Ansatz des Museums überzeugt, Krieg nicht etwa durch Körperteile oder Zerstörung zu zeigen. Viele Besucher hätten zunächst Angst, sich die Ausstellung anzusehen, da sie mit den üblichen, drastischen Bildern von totaler Zerstörung und Leichen rechneten. „Es sind die alltäglichen Objekte, mit denen man sich selbst assoziieren kann“, sagt Iuliia Skubytska. Besucher könnten sich so eher in die Realitäten hineinversetzen, die sie nicht selbst erleben.

Auch anonymisierte Beiträge
Auf der anderen Seite achteten die Mitarbeiter darauf, dass es bei den Beteiligten nicht zu einer Retraumatisierung komme – oder sie selbst unter dem Gehörten litten. „Niemandem soll geschadet werden“, laute ihre wichtigste Regel. In der Ukraine bedeute das auch, dass manche Beiträge nur anonymisiert aufgezeichnet und ausgestellt würden, um die Privatsphäre der Interviewten zu bewahren. Denn mit der dokumentarischen Arbeit sei das „War Childhood Museum“ bereits in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten.
Angst vor Verfolgung
„Sie haben gefragt, ob wir Informationen über Kriegsverbrechen gegen Kinder oder Gewalt gegen Kinder haben“, schildert Iuliia Skubytska. In der Ukraine gebe es keine Gesetze, die eine Auswertung der Aufnahmen durch die Geheimdienste untersagten. Druck hätten die Mitarbeiter zwar bisher nicht gespürt, doch müssten sie solche Aspekte bei ihrer Tätigkeit berücksichtigen. Aus Angst vor Verfolgung hätten noch keine Jugendlichen mit ihnen gesprochen, die die Ukraine für die Entwicklungen verantwortlich machten.
Ebenso bewusst sind sich die Beteiligten der Gefahr der politischen Vereinnahmung. Derzeit wirke es so, als beziehe der ukrainische Ableger des Museums politische Position, da die Stimmen nur eine Seite abbildeten. Allerdings sei das klare Ziel, die Thematik möglichst breit abzubilden. Neutralität allerdings sei für sie in dieser Sache kompliziert. „Es ist schwierig, keine Haltung zu haben“, merkt Iuliia Skubytska an. Sie selbst habe Verwandte in Kharkiv.
Der Aggressor, der so wirke, als bedrohe er das eigene Leben und das der Familie, sei hier klar benennbar: Russland. „Das Beste, das wir tun können, ist ein erweitertes Bild zu vermitteln“, sagt die Direktorin. Deshalb versuche das Team, auch Erinnerungen aus den besetzten Gebieten zu sammeln, bisher jedoch vergeblich. Sie hoffe, dass hier mit der Zeit neue Möglichkeiten entstünden.