Es war der 15. August 2021, als die Taliban die Macht in Kabul wieder zurückeroberten. Zu diesem Zeitpunkt haben die meisten internationalen Truppen das Land bereits verlassen. Nach der Übernahme herrschte Chaos. Mittlerweile ist es still geworden um die Situation in Afghanistan. Vor allem, weil es auf dem Globus viele andere Krisenherde gibt. Seewoche-Mitarbeierin Lena Reiner war im Juli bereits zum dritten Mal dort und berichtet von ihren Erfahrungen und Treffen mit einheimischen Frauen.

Yasmin in freut sich jedes Mal, wenn sie ohne Kopftuch sein kann.
Yasmin in freut sich jedes Mal, wenn sie ohne Kopftuch sein kann. Bild: Lena Reiner

Yasmin (Name wurde zur Sicherheit geändert) ist gerade einmal kapp über 20 Jahre jung. Sie spricht mich am Ende meines Besuchs in dem Büro an, in dem sie ehrenamtlich mithilft und in dem ich meine Interviews in Kabul führe. „Können wir reden? Allein?“ Ich gehe mit ihr in einen Nebenraum, mache die Tür zu. Sie setzt sich auf einen Sessel, zögert kurz, fragt dann: „Darf ich etwas Persönliches fragen?“ Ich nicke. Sie möchte wissen, ob ich verheiratet bin. Ich antworte „nein“. Dann fragt sie mich, ob ich heiraten möchte. Ich antwortete „eigentlich nicht“. Dann fragt sie mich, ob ich schon mal eine Freundin, also keinen Freund, gehabt habe. Ich nickte.

Am linken Unterarm von Yasmin sind die Narben vom Ritzen zu erkennen.
Am linken Unterarm von Yasmin sind die Narben vom Ritzen zu erkennen. Bild: Lena Reiner

Yasmin soll verheiratet werden

Dann bricht es aus ihr heraus: „Ich denke ja, dass es gut ist, vielleicht besser, mit einer Frau zusammen zu sein. Man versteht sich viel besser, versteht die Probleme mehr und ist einfach viel ähnlicher!“ Ich nicke, weiß aber nicht recht, was sie nun von mir hören möchte. Doch ich muss gar nichts sagen, denn sie spricht nahtlos weiter: „Meine Stiefmutter will, dass ich bald heirate, weil ich kein Geld mehr verdiene.“ Es geht hier selbstverständlich um einen Mann. Sie zögert nochmal kurz und meint dann: „Ich will vielleicht auch mal eine Freundin oder einen Freund haben, aber ich will auf keinen Fall jetzt heiraten. Ich bin noch nicht bereit dafür.“ Sie benötige ihre Energie für ihren Aktivismus für Frauen- und Kinderrechte, wolle sich noch weiterbilden. Auch wäre sie viel lieber weiterhin eine Ernährerin der Familie, als diese per Heirat zu verlassen.

Als wir uns drei Wochen später wiedersehen, sind die Heiratspläne konkreter geworden – und ihre Verzweiflung noch größer. Wir treffen uns in einem Café, das weit von ihrem Zuhause entfernt ist und das derzeit immer recht schlecht besucht ist, so dass wir alleine sind und niemand mithören kann. Sie erzählt mir, dass sie einen afghanischen Mann heiraten soll, der sich derzeit gar nicht im Land befindet und den weder sie noch ihre Eltern persönlich kennen. „Sie meinen eben, er komme aus einer guten Familie“, sagt sie. Aber wie solle sie jemanden heiraten, den sie nicht kenne?

Yasmin sagt: „Ich mag es, den Vögeln zuzuhören.“
Yasmin sagt: „Ich mag es, den Vögeln zuzuhören.“ Bild: Lena Reiner

Man habe ihr gesagt, sie werde dann schon seine Art und seine Gewohnheiten kennenlernen, sobald sie verheiratet seien. Aber was, wenn sie einfach nicht zusammenpassen? Sie wiederholt den Satz vom letzten Treffen: „Ich bin noch nicht bereit dazu, zu heiraten!“ Deshalb habe sie auch Pläne geschmiedet, Pläne, allein ins Ausland zu gehen. Hauptsache weit genug weg, um nicht heiraten zu müssen. Yasmin möchte ein Vorbild sein, zeigen, dass auch Frauen aus einer schwierigen Lage entkommen und etwas erreichen können. Sie möchte studieren, Frauen und Kinder stärken, ihnen beibringen, wie man sein Selbstbewusstsein trainiert.

Zeichen und Malen hilft Yasmin im Alltag.
Zeichen und Malen hilft Yasmin im Alltag. Bild: Lena Reiner

Hilfe zur Selbsthilfe

Eben das habe ihr nämlich auch geholfen, als sie an einem seelischen Tiefpunkt im Leben gewesen sei. Sie zeigt ihre Unterarme; die Frage, ob es Ritznarben oder ein Selbstmordversuch gewesen ist, bleibt unbeantwortet. Jedenfalls habe sie an einem niederländischen Institut eine Anlauf-
stelle gefunden: „Dort wurde mir beigebracht, wie ich mir selbst helfen kann, mein Selbstbewusstsein aufbauen.“ Genau das möchte sie jetzt weitervermitteln.

Frauen ohne Mitspracherecht

Doch Yasmin hat, wie viele junge Frauen in Afghanistan, kein Mitspracherecht in Sachen ihrer eigenen Zukunft. Seit der Machtübernahme der Taliban ist die wirtschaftliche Lage noch schlechter als zuvor und gerade Frauen verlieren nach und nach ihre beruflichen Möglichkeiten. Das geschieht teilweise durch explizite Verbote: So sind Frauen auf den oberen Führungsebenen nicht mehr erlaubt; ebenfalls in öffentlichen Ämtern und in Medienberufen nur in bestimmten Bereichen.

Eine Szene von einem Bazar aus Herat mit Frauen, die einen Tschador tragen.
Eine Szene von einem Bazar aus Herat mit Frauen, die einen Tschador tragen. Bild: Lena Reiner

Doch es gibt auch Sparten, in denen die Praxis unfreier ist als die Theorie. So sind typische Frauenunternehmen im Kleidungs- oder Beautybereich zwar weiterhin völlig legal, werden aber schlichtweg eingeschränkt und schikaniert – etwa die Mitarbeiterinnen auf dem Heimweg, wieso sie allein als Frau unterwegs seien. Auch Kundinnen bleiben aus denselben Gründen den reinen Frauengeschäften immer häufiger fern. Und so hat eben auch Yasmin ihre Arbeit bald nach der Machtübernahme verloren. „Ich bin Paschtunin“, erklärt sie. „Bei uns ist es normal, dass eine Frau verheiratet wird, wenn sie anderweitig nicht nützlich für die Familie sein kann, also etwa kein Geld verdient.“

Hinzu kommt Yasmins Biografie, die ihr noch weniger Spielraum lässt. „Als ich sechs Jahre alt war, habe ich meine Mutter verloren. Das war schlimm für mich. Ich habe keine Geschwister und war ganz allein“, schildert sie. So habe ihre Tante entschieden, dass ihr Vater wieder heiraten müsse. Mit ihrer Stiefmutter habe sie kein gutes Verhältnis. Deshalb, sagt sie, habe sie schon zu ihrer eigenen Schulzeit angefangen, sich für Frauen und Kinder einzusetzen: „Ich habe ihnen Malen beigebracht, das hat sie aufgeheitert.“

Malen als Therapie

Von sich selbst wisse sie, dass Malen helfen könne. „Immer, wenn es mir schlecht geht oder ich traurig bin, fange ich an zu zeichnen und dann geht es mir wieder besser“, schildert sie. Mit ein paar Freundinnen habe sie dann später die Idee gehabt, von Haus zu Haus zu ziehen und Frauen das beizubringen, was sie lernen mochten; mal ein bisschen Englisch, mal einfach nur das Alphabet und mal eben auch Zeichnen oder Malen. „Es ist wichtig, ihre Talente und Fähigkeiten sichtbar zu machen“, erklärt Yasmin.

Drohungen gegen Yasmin

Viele hätten ein Talent, von dem niemand wisse, weil sie das Haus nicht verließen oder verlassen dürften: „Das wollte ich ändern“, sagt Yasmin. Sie habe Menschen gezeichnet, die Bilder dann verkauft und so etwas Geld sparen können. Davon habe sie Bücher gekauft, um sie den Frauen zum Lernen zu schenken. Sie sei so viel herumgekommen in der Stadt und habe immer gefragt, was welche Frau lernen möchte. „Und dann wurde ich bedroht, ich solle das bleiben lassen“, sagt sie, während sich ihr bisher strahlendes Gesicht verfinstert. Die Familien der Frauen hätten ihr gesagt, dass sie das lassen solle. Das heißt, die Männer in den Familien wollten nicht, dass ihre Töchter, Schwestern oder Ehefrauen etwas lernen.

Die Autorin Lena Reiner
Die Autorin Lena Reiner Bild: Lena Reiner