Das wahre Ich lernt man häufig erst in Extremsituationen kennen. Nicht selten werden dann die Menschen von sich selbst überrascht, zu was sie alles fähig sind. Einer, der genau dies unter Beweis gestellt hat, ist William Lorne Goudie aus Kanada. Der 55-jährige Pastor und Soldat kam in die Ukraine, um Zivilisten und Soldaten bei Evakuierung sowie bei der Verteilung von Nahrung, Medizin und Ausrüstung zu unterstützen.
Als alles begann
„Als ich zu Hause in Kanada die Nachrichten über die russische Aggression in der Ukraine hörte, wurde ich wütend“, sagt er selbst. „Ich konnte nicht verstehen, warum es so etwas in der heutigen Zeit gibt.“ Sein Mitgefühl mit dem ukrainischen Volk war dermaßen groß, dass er kurzerhand seinen Job als Hauptmann bei den kanadischen Streitkräften (CAF) gekündigt hat, um in der Ukraine zu helfen. „Ich spielte sogar mit dem Gedanken, der ukrainischen Fremdenlegion beizutreten“, erklärt William Lorne Goudie. „Die CAF erlaubt einem aktiven Mitglied allerdings nicht, in einem Krieg im Ausland zu den Waffen zu greifen.“ Deshalb trat er aus den kanadischen Streitkräften aus.

„Ich kaufte ein Flugticket und reiste in die Ukraine“, sagt er. „Mittlerweile bin ich seit vier Monaten in der Ukraine, um humanitäre Arbeit zu leisten.“ Mit Vertretern einer örtlichen Kirche hat er in Bucha Evakuierungs-, Versorgungs- und Wiederaufbaumissionen unterstützt. „Ich unterrichte Freiwillige, humanitäre Helfer und Soldaten in Erster Hilfe“, erzählt William Lorne Goudie. „Ich habe auch Gelder aus Kanada gesammelt, um diese Missionen zu finanzieren. Darüber hinaus habe ich Sitzungen zu Sicherheit und Gefahrenabwehr sowie Konvoi-Operationen im Zusammenhang mit Evakuierungen abgehalten.“
Vielseitige Hilfe
Der 55-Jährige reist durch die Ukraine und versorgt humanitäre Helfer mit finanziellen und materiellen Dingen, die Binnenvertriebenen dabei helfen, ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, Medizin, Kleidung und Unterkunft zu decken. William Lorne Goudie kam in die Südukraine, um eine Wohltätigkeitsorganisation zu finden, die etwas Geld benötigen konnte, aber es stellte sich als schwierig heraus. Viele glücklich Umstände führten dazu, dass dann doch ein Kontakt zur privaten Initiative „NEXT“ zustande kam.
Eine ganze Reihe von Zufällen
Eigentlich wollte William Lorne Goudie von Mykolajiw nach Kiew reisen, verpasste in Odessa aber den Zug. „Wir warteten und gingen am Nachmittag durch die Straßen. Da trafen wir einen Journalisten, der das Maple-Leaf-Emblem auf meinem Hemd sah“, erzählt William Lorne Goudie. „Daraufhin sprach er uns an. Wir erzählten unseren Plan und da empfahl er uns die private Initiative NEXT in Odessa.“ Die Initiative hilft alleinerziehenden Müttern, Binnenvertriebenen und Rentnern in dieser schweren Zeit.
„Wir trafen den Gründer Marat Abdullaev und nur ein paar Stunden später waren wir in einem Supermarkt, in dem ich ungefähr 5000 Dollar für Lebensmittel, Hygieneprodukte und Medikamente ausgegeben habe“, erzählt der Kanadier. „Ich habe alles an ‚NEXT‘ übergeben, damit die Mitarbeiter noch mehr Menschen in Not helfen können.“ Anschließend kaufte der 55-Jährige noch Medikamente und brachte selbst die Apothekerin zum Staunen, was er alles auf einen Schlag mitnahm.

„William Lorne Goudie ist wie ein Wunder für uns“, schwärmt Marat Abdullaev, der Initiator der Hilfsaktion „NEXT“, voller Dankbarkeit. „Wir sind immer auf der Suche nach Spenden, da wir Tausenden von Menschen helfen. Dann kam da einfach dieser Kanadier aus dem Nichts. Es war unglaublich, ich war echt sprachlos.“
Einsatz an der Front
William Lorne Goudie unterstützt aber nicht nur Hilfs-Initiativen. Er geht auch dorthin, wo es richtig gefährlich ist: an die Front. Bevor er nach Odessa kam, war er eine Woche dort und unterrichtete Soldaten in Erster Hilfe. Er schlief unter den gleichen Bedingungen wie die Soldaten: in einem Loch, das in den Boden gegraben wurde. Sein Ziel war es, den Menschen beizubringen, wie man unter Kampfbedingungen Leben rettet.
„Ich war mit Soldaten in Städten und Dörfern, die bombardiert wurden“, erzählt der Kanadier. „Ich habe den Artilleriebeschuss zur Verteidigung der Ukraine gehört und bin Zeuge der Bomben- und Raketenangriffe geworden, die von russischen Waffen verursacht wurden.“ Er habe die Zerstörung gesehen, die die russische Armee beim Rückzug aus dem besetzten ukrainischen Gebiet angerichtet habe. „Trotz alledem beobachte ich, wie eine Nation mit einem unglaublichen Identitätsgefühl und der Bereitschaft, feindlichen Angriffen standzuhalten, zusammenwächst“, so William Lorne Goudie. „In einem bin ich sehr sicher: Die ukrainische Nation ist stärker geworden.“