Zahlen sind geduldig. Vor allem, wenn sie in Statistiken vorkommen. Was allerdings nicht bekannt ist: Wie viele Menschen sich in Odessa seit Kriegsbeginn in einer schwierigen Situation befinden. Viele haben ihre Jobs verloren, andere noch viel mehr, einschließlich der Menschen, die sie lieben, und ihre Häuser. Es gibt so viele, nicht nur in Odessa, die Hilfe brauchen, um zu überleben. Marat Abdullaev gehört zu denen, die die Not der Menschen lindern möchten. Zusammen mit seinen Freunden hat er das Aktionsbündnis „N.E.X.T.“ auf die Beine gestellt. Die Organisation hilft unter anderem alleinerziehenden Müttern, älteren und kranken Menschen.

Hilfe für Kinder

„Ich bin Rechtsanwalt von Beruf“, erklärt Marat Abdullaev. „Seit 2016 helfe ich kostenlos Menschen, die rechtliche Hilfe benötigen, sich diese aber nicht leisten können.“ Mit einer britischen Organisation haben er und seine Mitstreiter ein Projekt für Kinder mit psychischen Problemen ins Leben gerufen, die in einer örtlichen psychiatrischen Einrichtung behandelt werden. „Dort können sie unter anderem in der Kunsttherapie arbeiten“, sagt er. „Die Kinder zeichnen dabei gemeinsam mit Freiwilligen und Psychologen. So hat unser Ehrenamt begonnen.“

Haben das Aktionsbündnis N.E.X.T. initiiert (von links): Marat Abdullaev, Yekaterina Shalyapina, Dmitry Olkhovsky.
Haben das Aktionsbündnis N.E.X.T. initiiert (von links): Marat Abdullaev, Yekaterina Shalyapina, Dmitry Olkhovsky. Bild: Sergey Panashchuk

Lebensmittel und Medikamente

Seit Kriegsbeginn bitten ihn die Menschen nicht mehr um Rechtsbeistand, sondern um Lebensmittel und Medikamente. „Wir haben damals beschlossen, ihnen zu helfen“, so Marat Abdullaev. „Wir hatten ein wenig Geld von unseren Spendern übrig und zusammen mit Freunden haben wir eingezahlt, Lebensmittelvorräte, Windeln, Seife, Kinderspielzeug und mehr gekauft und angefangen, sie an diejenigen zu liefern, die sie brauchen.“ Die Ehrenamtlichen Helfer beladen die Kofferräume ihrer Autos. Darin sind Mehl, Öl, Konserven und Hygieneartikel. Sie fahren durch die Stadt, um sie an die Bedürftigen zu liefern. Sie nennen ihre gepackten Plastiktüten „Hilfstaschen“. Mit ihrer kleinen Crew können sie täglich rund 20 Personen helfen.

Menschen sind dankbar

Die Menschen, die eine solche Hilfstasche bekommen, sind sehr dankbar und nicht selten auch emotional. Selbst die Freiwilligen, die die Hilfe verteilen, müssen oft mit den Tränen kämpfen. Yekaterina Shalyapina ist ebenfalls in der Organisation N.E.X.T. tätig. Vor dem Krieg war sie Geschäftsführerin einer Treuhandgesellschaft. Seit dem 24. Februar hat sie ihre Arbeit aufgegeben, um Menschen zu helfen. Für Yekaterina Shalyapina ist die Aufgabe eine Ehrensache, die sie voller Energie angeht. Durch ihre fröhliche Art bringt sie nicht nur die Hilfe in Not. Sie spricht mit ihnen, umarmt sie und weint auch mit ihnen.

„Ich verstehe, dass die Hilfstaschen nicht das Problem lösen können“, sagt sie. „Die Menschen brauchen diese Hilfe nicht nur einmal, sie brauchen sie regelmäßig.“ Jedes Mal, wenn sie alte Menschen besucht, die allein sind und in Armut leben, fühle sie sich schuldig. „Ich fühle mich schuldig, weil ich gut leben kann und die anderen nicht“, erklärt Yekaterina Shalyapina. „Wir alle haben alte Verwandte und das Schrecklichste dabei ist, dem Alter in Armut und Elend gegenüberzustehen.“ Sie fühle sich schuldig, weil sie nicht in der Lage ist, ihnen allen zu helfen. Auch wenn es ihr bewusst ist, dass dies gar nicht möglich sei.

Es werden sogenannte „Hilfstaschen“ gepackt, ins Auto eingeladen und verteilt.
Es werden sogenannte „Hilfstaschen“ gepackt, ins Auto eingeladen und verteilt. Bild: Sergey Panashchuk

Persönliche Verbindungen

Manchmal entwickeln sich sogar persönliche Verbindungen zu Menschen, denen sie hilft. „Einige ältere Frauen haben mich gebeten, für sie Medikamente zu kaufen“, erzählt sie. „Auch wenn diese teuer sind, kaufe ich sie, denn was gibt es Schlimmeres als sagen zu müssen, dass sie deshalb nicht gekauft werden können, weil kein Geld dafür da ist.“ Andere ältere Damen haben Yekaterina Shalyapinasogar schon darum gebeten, dass sie ihre Fußnägel schneiden solle. „Diese Frau hatte Verwandte“, sagt sie. „Sie haben die Dame einfach vergessen.“ Dann ruft sie die Verwandtschaft an und erinnert sie, dass sie sich doch auch um ihre eigene Familie kümmern sollten. „Als Freiwilliger ist es ganz wichtig, dass Du das Schicksal derer, denen Du hilfst, nicht zu nahe an Dich rankommen lässt“, betont Yekaterina Shalyapina. „Manchmal ist genau das aber ganz schwer. Und dann nimmt dich das eine oder andere Schicksal doch ziemlich mit.“

Viele Freiwillige helfen

N.E.X.T ist eine Wohltätigkeitsorganisation, die Bedürftigen in Odessa hilft. Freiwillige organisierten seit Beginn des Krieges Dutzende solcher Organisationen. Mittlerweile trifft man in Odessa viele Helfer an. Einige Restaurants versorgen die Menschen kostenlos, einige Geschäftsleute haben ihre Büros an die Freiwilligen vergeben. Die Menschen in Odessa zeigen, dass sie gutherzig sind und zusammenhalten. Und das, obwohl sie in den vergangenen Tagen immer häufiger bombardiert werden. Es werden auch zunehmend zivile Opfer registriert. Trotz dieser schrecklichen Situation sind die vielen ehrenamtlichen Helfer weiter auf den Straßen und versuchen zu helfen, wo es nur geht – mit offenen Herzen und erfüllt von Mitgefühl und Freundlichkeit.