Die Balken auf den Stegen in den Pfahlbauten in Unteruhldingen rattern. Das Geräusch hört sich alles andere als aus der Steinzeit an. Ist es auch nicht, denn zwei Rollstuhlfahrer sind im Museum zu Besuch und schauen sich an, wie das Unesco Weltkulturerbe ausgesehen haben könnte. Es sind aber nicht irgendwelche Rollstuhlfahrer. Denn immer wieder bleibt eine ganze Delegation um das Duo herum stehen, zeigt auf den Untergrund und diskutiert.
Persönlich überzeugt
Die beiden Männer im Rollstuhl sind Andreas Braun und Timo Wetz vom Landesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderter Baden-Württemberg (BKS). Sie sind selbst querschnittsgelähmt und höchstpersönlich vorbeigekommen, um zu sehen, ob das Pfahlbaumuseum die Auszeichnung „Inklusion plus Award für Barrierefreiheit“ auch tatsächlich verdient hat. Das Museum wurde vom Landesverband mit vier weiteren historischen und kulturellen Einrichtungen ausgezeichnet.

Mit dabei ist auch der Museumsdirektor Gunter Schöbel, der erzählt, dass es für ihn zum „normalen Besucher-Service“ gehöre, wenn beispielsweise Gruppen anfragen würden, ob man auch mit einem Rollstuhl in die Pfahlbauten könne. „Wir versuchen, so gut wie alles barrierefrei zu gestalten“, so Gunter Schöbel. Daraufhin ergreift Andreas Braun, der Vorsitzende des BKS, das Wort: „Das, was in den Pfahlbauten geleistet wird, ist keinesfalls normal, sondern in der Intensität und Umsetzung leider eine außerordentliche Ausnahme.“

Die Gruppe geht und rollt nicht nur über die Stege, sondern besichtigt auch die Häuser. Vor allem die Ein- und Ausgänge mit teilweise beträchtlichen Rampen sind immer wieder ein Thema. Vor allem Rolf Auer, der Technische Leiter des Pfahlbaumuseums, möchte immer wieder von Andreas Braun und Timo Wetz wissen, ob sie zu bewältigen sind. Beide attestieren bei nahezu allen Rampen, dass sie sehr gut installiert sind. Dabei betont der Vorsitzende des BKS: „Viel besser kann man das nicht machen“, lobt Andreas Braun. „Und eines ist auch klar: Gerade in diesem Museum kann und muss auch nicht alles völlig flach sein.“

„Es ist wirklich außerordentlich, wie sich Professor Schöbel und sein Team diesem Thema widmen“, betont die Geschäftsführerin Sabine Goetz. „Barrierefreiheit und Inklusion wird von Menschen gelebt. Nur, wenn die Entscheidungsträger diesbezüglich offen sind, könne das auch erfolgreich gelingen.“ Und genau das werde im Pfahlbaumuseum exzellent umgesetzt. Deshalb habe der BSK den „Inklusion plus Award für Barrierefreiheit“ Ende Mai auch dem Pfahlbaumuseum „sehr gerne“ verliehen.

Bei der Stipvisite in Unteruhldingen dabei ist auch Oswald Ammon, Botschafter für Barrierefreiheit im Landkreis Konstanz, der ebenfalls für den BKS unterwegs ist. Auch er ist selbst körperlich gehandicapt. Auf die Frage von Gunter Schöbel, ob es eigentlich einen Reiseführer für Menschen mit Einschränkungen gebe, erklärt er, dass man genau an so einem Projekt für die Vierländerregion Bodensee arbeite. Darin sollen neben Tourismus-Zielen vor allem auch Unterkünfte und weitere Bereiche abgedeckt werden.

Die Verantwortlichen im Pfahlbaumuseum arbeiten sehr viel bei der Umsetzung mit Oswald Ammon zusammen. „Wenn wir das Thema Barrierefreiheit in irgendeinem Bereich angehen, fragen wir sehr gerne auch Betroffene“, erklärt Gunter Schöbel. „Nur dann können auch kleine Details beachtet werden, an die man sonst kaum denkt, die aber zu einem riesigen Hindernis werden können.“ Angefangen von zu kurzen Geländern über zu steile Rampen und zu enge Kurven bis hin zu kleinen Plattformen, auf denen sich Rollstuhlfahrer kurz ausruhen können, seien Dinge, an die man als Mensch ohne Einschränkung kaum denke.

Experten sind die Betroffenen
„Genau das zeichnet das Pfahlbaumuseum aus“, betont Andreas Braun. „Die wahren Experten in punkto Barrierefreiheit sind selten die Architekten, sondern die Betroffenen.“ Und Sabine Goetz fügt hinzu: „Wenn genau diese Punkte bereits im Vorfeld besprochen und geplant werden, kann viel Zeit und vor allem jede Menge Geld gespart werden.“ Außerdem betont sie: „Der Award ist keine Auszeichnung für Barrierefreiheit, sondern ein Award für Inklusion.“
Die Begründung der Auszeichnung
Der Landesverband Selbsthilfe Körperbehinderter Menschen Baden-Württemberg vergibt den „Inklusion Plus Award 2021“ für historische Gebäude, die sich als besonders inklusiv auszeichnen und Menschen mit Behinderung Teilhabe am Kulturgut ermöglichen. Die Verleihung des Awards ist eine Wertschätzung und ein Dank des BSK für die Umsetzung von Barrierefreiheit bei denkmalgeschützten Gebäuden, da dies oft mit großen Herausforderungen verbunden ist. Gerade auch im Hinblick auf die gesellschaftlichen demografischen Entwicklungen ist es wichtig, Barrierefreiheit und Denkmalschutz miteinander in Einklang zu bringen. Dies ermöglicht Menschen mit und ohne Behinderung das kulturelle Erbe und die Geschichte des Landes gleichermaßen erleben zu können. Bei der zeitgemäßen Nutzung eines Baudenkmals und gleichzeitiger Sicherstellung des historischen Baubestandes gibt es selten Standartlösungen. Umso wichtiger sind die Einbindung und die Expertise von Menschen mit Behinderung. Die Preisträger sind hervorragende Beispiele, wie Inklusion auch bei historisch denkmalgeschützten Gebäuden gelingen kann und Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen teilhaben lassen.
Die Preisträger
Pfahlbauten Unteruhldingen, Städtisches Museum Storchen in Göppingen, Schloss Kirchentellinsfurt, Rossi Haus in Rastatt und Kloster Bebenhausen.