Herr Baur, die Handball-EM geht in die heiße Phase. Deutschland ist in der Hauptrunde mit dabei. Ist das für Sie standesgemäß oder eine Überraschung?

Ein deutsches Team hat immer die Qualität, um die Vorrunde zu überstehen. Wir haben eine so breite Basis an guten Spielern, dass die Hauptrunde eigentlich normal ist, selbst wenn so viele neue Spieler integriert werden müssen.

Aus dem EM-Team von 2016 sind nur noch Torhüter Andreas Wolff sowie Julius Kühn, Kai Häfner, Simon Ernst und Jannik Kohlbacher im Kader. Dafür gibt es neun Debütanten im Kader. Ist der Umbruch eher Druck oder sogar eine Chance?

Das ist mit Sicherheit eine Chance. Ich bin sicher, dass das sogar ein Plus sein kann, weil man unbedarft in die Spiele gehen kann.

Worin sehen Sie die Stärken des deutschen Teams?

Im Tor und am Kreis sind wir sehr gut besetzt. Vor allem die klare Hierarchie im Tor sollte für Ruhe sorgen.

Markus Baur aus Mimmenhausen ist Handball-Europameister 2004 und Weltmeister 2007. Aktuell ist er während der Europameisterschaft in Ungarn und der Slowakei als Experte beim ZDF tätig.
Markus Baur aus Mimmenhausen ist Handball-Europameister 2004 und Weltmeister 2007. Aktuell ist er während der Europameisterschaft in Ungarn und der Slowakei als Experte beim ZDF tätig. Bild: Jäckle, Reiner

Bundestrainer Alfred Gíslason sagte vor dem Turnier, dass die DHB-Auswahl kein Kandidat für eine Medaille ist, deshalb rede man auch nicht davon. Wie sehen Sie die Chancen?

Prinzipiell ist es so, dass, wenn man zu einem Turnier fährt, man Spiele gewinnen möchte. Und wenn dies gelingt, spielt man unweigerlich irgendwann um Medaillen. In diesem Fall ist die Aussage taktisch nicht schlecht, um so viel Druck wie möglich von den Spielern zu nehmen. Eines ist aber auch klar: Deutschland kann gegen jeden Gegner gewinnen.

Auf was wird es in diesem Turnier ankommen?

Es wird auf eine stabile Abwehr ankommen. Das ist immer das A und O bei solchen Turnieren. Dies ermöglicht einfache Treffer durch Tempogegenstöße. Außerdem ist es im Angriff wichtig, trotz der fehlenden Eingespieltheit, so wenig leichte Fehler wie möglich zu machen, die dem Gegner einfache Tore ermöglichen.

Glauben Sie, dass Corona eine entscheidende Rolle in der EM spielen kann?

Auf jeden Fall. Das kann durchaus brutal entscheidend werden. Hier gilt es, sich unbedingt an alle Hygienevorschriften zu halten.

Vor dem Turnier sorgten die beiden Absagen der renommierten Spieler Fabian Wiede und Patrick Groetzki aus familiären Gründen für Aufsehen. Wie sehen Sie diese Entscheidungen?

Diese Entscheidungen sind zu akzeptieren. So etwas möchte ich nicht bewerten, denn dies muss jeder selbst wissen.

Markus Baur schaut das Mannschaftsbild des deutschen Teams mit ihm bei der Weltmeisterschaft 1999 in Ägypten vor den Pyramiden von Gizeh an.
Markus Baur schaut das Mannschaftsbild des deutschen Teams mit ihm bei der Weltmeisterschaft 1999 in Ägypten vor den Pyramiden von Gizeh an. Bild: Jäckle, Reiner

Johannes Golla ist der neue Kapitän der Mannschaft und damit auch einer Ihrer Nachfolger. Glauben Sie, er ist mit seinen 24 Jahren dieser Aufgabe gewachsen?

Das hat nichts mit dem Alter zu tun. Johannes ist mit seinen Eigenschaften prädestiniert für diese Aufgabe. Er hat eine super Einstellung und wird das gut machen. Ich kenne ihn sehr gut, denn ich habe ihn als Junioren-Nationaltrainer in der U20 zum ersten Mal überhaupt in ein Nationalteam geholt. Seitdem ist er kaum noch wegzudenken. Auch deshalb freue ich mich ganz besonders für ihn.

Auch dieses Jahr müssen die Spieler bei der EM ein unglaubliches Pensum absolvieren. Die Finalisten spielen neun Partien in 17 Tagen. Bereits seit Jahrzehnten wird in Deutschland von vielen Trainern und Spielern von einer immens hohen Belastung geredet. Geändert hat sich eigentlich nichts. Offensichtlich interessiert das keine Funktionäre. Ist das so?

Das ist sicher so. Es liegt daran, dass sich sowohl der Welt- als auch der Europa-Verband sowie die Bundesliga jeweils ihr Stück vom Kuchen sichern wollen. Wenn dann noch olympische Spiele stattfinden, wird es ganz eng. Ich kann mich an die EM 2004 erinnern, da hatten wir in elf Tagen acht Spiele. Das war noch heftiger. Das war sowieso ein brutales Jahr, denn ich hatte mit Vorbereitungs- und Qualifikationsspielen etwa 100 Partien im Jahr.

Sie sprechen die EM 2004 an. Sie holten damals zum ersten Mal den Titel nach Deutschland. Welche Erinnerungen haben Sie an das Turnier?

Ich erinnere mich an die Vorrunden-Niederlage gegen Serbien und das Remis gegen Frankreich. Durch den Sieg gegen Polen waren wir in der Hauptrunde. Ab da haben wir alles gewonnen. Für mich lief es allerdings nicht so gut, denn ich musste mit einem Meniskusriss nach dem vierten Spiel zuschauen.

Wer ist für Sie Favorit 2022?

Ganz klar Dänemark. Die Dänen haben sicher den stärksten Kader. Und vor allem den cleversten Trainer.

Sie sind als TV-Experte für das ZDF mit dabei. Wie bereiten Sie sich auf die Spiele vor?

Über das deutsche Team bin ich eigentlich immer im Bilde. Allerdings muss ich die Gegner schon genauer anschauen. Da geht es um den Kader, die Taktiken, die Stärken und Schwächen. Hierzu schaue ich einige Vorbereitungs- und Turnierspiele an. Dadurch, dass ich nicht mehr so im aktiven Handball dabei bin, brauche ich hier mittlerweile etwas mehr Vorbereitungszeit.

Werden Sie vor Ort sein?

Leider nein. Natürlich wäre ich lieber in der Halle. Vor allem, weil man da auch als Kommentator viel mehr sehen kann, was abseits des Geschehens passiert. Ich kann die Entscheidung aber verstehen. Wir kommentieren aus einem gemeinsamen Studio mit der ARD aus Hamburg.

Wie gut sind Ihre Drähte knapp 15 Jahre nach der eigenen aktiven Zeit in die Nationalmannschaft?

Sehr gut. Zum einen, weil der aktuelle Co-Trainer Eric Wuttke ja auch mein Co-Trainer als Junioren-Nationaltrainer war und zum anderen kenne ich ein Großteil der Spieler aus der Juniorenzeit. Ich habe mit fast allen schon zusammengearbeitet.

Das ZDF überträgt das Finale am 30. Januar live. Wie sehr würden Sie sich über eine deutsche Beteiligung freuen?

Das wäre natürlich gigantisch und würde mich wahnsinnig freuen. Allerdings ist der Weg bis dahin sehr schwer.

Die Fragen stellte Reiner Jäckle