Ein schmaler Feldweg oberhalb eines kleinen Örtchens am westlichen Bodensee führt zu einem Hof, der schon seit einiger Zeit verlassen ist. Der Ort ist unter den Lost-
Place-Fotografen recht bekannt. „Ich habe über einen Bekannten den Tipp bekommen, dass man über die Scheune in das Gebäude kommt“, sagt Jasmin Seidel. „Das ist deshalb wichtig, weil es ein ungeschriebenes Gesetz unter Lost-Place-Fotografen gibt, dass man sich keinesfalls gewaltsam Zugang zu einem Gebäude verschafft.“ Das bedeutet, dass man nur dann in ein Gebäude gelangt, wenn es über eine Tür, ein Fenster oder eine andere Öffnung zugänglich ist.

Mühsamer Einstieg
„Allerdings war es doch deutlich mühsamer, als ich es mir vorgestellt habe“, gesteht die 41-Jährige. „Ich bin über einen Anhänger auf eine Leiter gekommen, über die ich dann den Heuboden erreichen konnte.“ Das, was Jasmin Seidel dann aber zu Gesicht bekommt, erfüllt sie irgendwie mit Unbehagen. „Der Ort war ein bisschen unheimlich“, gesteht sie. „Ich kann aber nicht sagen warum.“ Vielleicht liegt es daran, dass das Erste, auf das sie trifft, ein paar Felle von toten Tieren ist, die über einer Wäscheleine hängen. Es sieht aus wie Nerze.

In den ersten Zimmern, die sie erreicht, sieht es so aus, als ob jemand versucht hat zu renovieren. „Im Schlafzimmer stand auf dem Nachttisch noch ein vergilbtes Foto eines Paares, ein alter Hut lag auf der Ablage und eine Schublade stand offen“, erzählt sie. „In der Schublade lagen gestrickte Socken.“ Und das erinnert sie an Omas selbstgestickte Socken, die sie bis heute über alles liebt. In diesem Moment verfolgt Jasmin Seidel eine weitere ganz wichtige Regel unter Lost-Place-Fotografen: Es wird nichts verändert, nichts für ein Foto drapiert und vor allem nichts mitgenommen.

Natürlich zückt sie sofort ihre Kamera, die sie immer dabei hat, und macht die ersten Fotos. Bis dahin war der Besuch in diesem Lost Place noch ziemlich normal. Dann geht es weiter ins Erdgeschoss. In der Küche ändert sich die Stimmung. „Es war irgendwie bedrückend, obwohl ich nichts Gruseliges sah“, erinnert sie sich. „Im Gegenteil, die Sonne strahlte durch die Fenster und das Gebäude war lichtdurchflutet und recht hell.“ Das Gefühl wird stärker, als Jasmin Seidel ins Wohnzimmer kommt: Vor ihr stehen die gelben Ledersessel, die durch die Sonne schon fast golden schimmern. Auf dem Tisch liegt ein Familienfoto, auf dem eine dicke Schicht Staub liegt – wie auch auf den Möbeln, auf der Fensterbank, auf dem Kachelofen – einfach überall.

Unheimliche Atmosphäre
„Ich wollte am Ende nur noch meine Fotos machen und dann schnell wieder das Gebäude verlassen“, erzählt Jasmin Seidel. Draußen angekommen dreht sie sich dann noch einmal um. „Da sah der Bauernhof plötzlich wieder völlig friedlich aus“, sagt sie. „Und er liegt idyllisch auf der Höhe.“ Aber die Gänsehaut bleibt, bis sie das Gelände verlassen hat.
Jasmin Seidel
Die 41-Jährige ist in Waldkirch geboren, verbrachte ihre Kindheit im Elztal und lebt heute in Pfaffenweiler bei Freiburg. In ihrer Kindheit war sie mit ihren Eltern immer wieder am Bodensee und lernte schon damals die Ferienregion schätzen. Die gelernte Arzthelferin erkannte ihre Leidenschaft für die Fotografie durch einen Zufall: Die neue Kamera für den Urlaub entfachte diese große Liebe, die mit der Landschaftsfotografie ihren Anfang nahm. Recht schnell kam sie dann zur Lost-Places-Fotografie. Nun kehrte sie an den Bodensee zurück, um abseits der touristischen Pfade die Bodenseeregion neu zu entdecken. 2022 gewann Jasmin Seidel mit ihrem Buch „Lost Places im Schwarzwald“, das 2020 im Gmeiner Verlag erschienen ist, den Buchpreis „Wälderliebling“ bei der Buchmesse in Hinterzarten.
Zum Buch
Lost Places am Bodensee – Faszination des Verlassenen“ von Jasmin Seidel, erschienen im Gmeiner-Verlag, Bildband, Broschur, 192 Seiten, ISBN: 978-3-8392-0278-4, Preis: 26 Euro. Weitere Informationen zum Buch und zur Autorin gibt es im Internet unter:
www.gmeiner-verlag.de
Gewinnspiel
Die Seewoche verlost in Kooperation mit dem Gmeiner Verlag zwei Bildbände. Wer gewinnen möchte, schreibt einfach eine E-Mail mit dem Kennwort „Lost Places am Bodensee“ bis 29. August und der eigenen Adresse an:
win@seewoche.de