In der Vorkriegszeit war die ukrainische Hafenstadt Odessa ein riesiger Verkehrsknotenpunkt. Mittlerweile hat sie sich zu einem Übergangspunkt für die Binnenvertriebenen aus der Südukraine verwandelt. Hunderte, manchmal Tausende Menschen aus Brennpunkten wie Mykolayiv, Cherson und sogar Mariupol kommen jeden Tag nach Odessa. Die meisten von ihnen bleiben ein oder zwei Nächte, machen eine kurze Pause auf ihrer Flucht und ziehen dann weiter nach Westen. Die lokalen Behörden sagen, dass bislang nur 3000 Menschen, die wegen des Krieges ihre Häuser verlassen haben, in Odessa geblieben sind.
Evakuierungszüge
Vom Bahnhof in Odessa fahren täglich Evakuierungszüge nach Uzhgorod und Lwiw, besser unter Lemberg bekannt, ab. Dies sind zwei der beliebtesten Ziele von Binnenvertriebenen. Uzhgorod liegt direkt an der Grenze zur Slowakei und ist der einzige Ort in der Ukraine, der noch nicht bombardiert wurde. Lemberg liegt im Zentrum der Westukraine und etwa 50 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Die Stadt wurde zwar schon bombardiert, aber aufgrund ihrer geografischen Lage wird angenommen, dass die Russen sie nicht erobern können.

Der ehemalige VIP-Warteraum im Bahnhof von Odessa dient jetzt den Bedürfnissen der Binnenflüchtlinge. Die riesige Halle ist überfüllt mit Menschen, die auf ihren Zug ins neue Leben warten. Kinder, die aus ihrer Heimat geflohen sind, werden mit großer Aufmerksamkeit behandelt. Am Eingang zur Lobby stehen Kisten gefüllt mit Spielzeug, Kinderbüchern, Kleidung und Schuhen. Diese Dinge können alle kostenlos benutzt und mitgenommen werden.
Jeder bekommt Essen
Freiwillige servieren warme hausgemachte Mahlzeiten. Auch Obst, Kaffee, Tee und Brötchen stehen zur Verfügung – natürlich kostenlos. Hungrig verlässt niemand das Wartezimmer. Für Kinder gibt es einen Spielplatz. Erwachsene versuchen, diese Reise für Kinder in ein Spiel wie im Film „Life is Beautiful“ mit Roberto Benigni zu verwandeln. Entertainer und Clowns geben ihr Bestes, um Kinder vergessen zu lassen, was sie erlebt haben, und ein Lächeln auf ihre Gesichter zu zaubern.

Flucht aus Cherson
Julia ist Mutter von drei Kindern. Sie kam aus dem besetzten Cherson nach Odessa. Die Familie hat das Ziel Wien. Dort hofft sie, sich niederlassen und ein neues Leben beginnen zu können. „Unsere Stadt ist seit mehr als einem Monat besetzt. Sechs schwer bewaffnete Soldaten kamen zu mir nach Hause und fragten mich, warum ich Angst vor ihnen habe“, erzählt Julia. „Wie hätte ich keine Angst haben können, wenn sie bewaffnet zu mir kommen?“
Sie machte sich vor allem um ihre Töchter Sorgen. „Ich weiß, wozu sie fähig sind“, erzählt sie bestimmt. „Sie entführen Menschen in Cherson und diese verschwinden einfach.“ Und Julia hat selbst einige solcher Geschichten erlebt und mitbekommen: „Meine Freunde waren in Cherson mit ihrem Auto unterwegs“, erzählt sie. „Russische Soldaten hielten sie an und sagten, dass es ein schönes Auto sei, das jetzt ihnen gehöre. Meine Freunde sollten verschwinden, solange sie noch können.“ Julia nennt die Russen „Plünderer“. Sie hätten den Einheimischen all die luxuriösen Autos gestohlen und verhalten sich in Cherson wie eine Art König, der alles kann und vor allem darf.

„Wir sind aus unserer Heimatstadt geflohen, weil es jetzt Kämpfe gibt und wir jede Nacht Schüsse und Explosionen gehört haben“, erzählt Julia. „Wir mussten viel Geld bezahlen, um ein Auto zu mieten, um überhaupt aus Cherson herauszukommen.“ Und der Fahrer brachte es unmissverständlich auf den Punkt, dass die Chance, lebend aus der Stadt zu kommen, bei 50 Prozent liegt. „Wir fuhren durch Felder, umgeben von Landminen und Kugelfeuer über unseren Köpfen“, beschreibt Julia. „Der Fahrer brachte uns nach Mykolajiw, wo wir die erste Nacht verbrachten.“ Auch dort war allerdings Krieg. Nachts hörte die Mutter gewaltige Explosionen. Doch sie schaffte es mit ihren drei Kindern bis nach Odessa in den Westen des Landes. „Jetzt fahren wir weiter nach Polen und danach nach Wien“, sagt Julia entschlossen. „Ich sehe meine Zukunft und die Zukunft meiner Kinder in Europa. Ich möchte, dass sie sicher sind.“
Julias Tochter Adelina ist 15 Jahre alt. Sie kam mit einer Haustierratte namens Shurik nach Odessa. „Ich habe viel geweint und bin der Hysterie nahe“, sagt sie. „Wir haben in Cherson viele Verwandte. Ich konnte mich nicht von meinen geliebten Omas verabschieden. Mein Freund kämpft mit Russen und es ist unglaublich schwer, ihn zurückzulassen. Hoffentlich sind wir nach dem Krieg wieder vereint.“
Der Traum einer 15-Jährigen
Die Russen hätten gesagt, dass sie gekommen sind, um zu helfen, und dass es die ukrainische Armee sei, die die Städte bombardiert. „Ich stand da und sagte nichts“, so Adelina. „Ich habe versucht, meine wahren Gefühle hinter einem Lächeln zu verbergen. Vor allem, solange sie Waffen dabei hatten.“ Trotz der schwierigen Situation hat die 15-Jährige Träume und Ziele: „Ich nehme gerne als Model an Fotosessions teil und mag die Schönheitsindustrie. Ich möchte, dass das in Zukunft so bleibt. Außerdem träume ich von einem eigenen Schönheitssalon in Wien.“