Am größten Grenzübergang von Polen und Ukraine auf der polnischen Seite bei Korczowa herrscht seit Beginn des russischen Angriffskriegs Ausnahmezustand – zunächst allerdings nicht wegen Menschenmassen, die die Grenze queren. Zunächst auf den umliegenden Parkplätzen, dann auf dem Standstreifen auf der Grenzstraße warten vor allem Angehörige auf Freunde und Familie, die aus dem Land flüchten. Am Samstagmorgen kommt die Polizei nicht mehr gegen die Automassen an und hört auf, die Wartenden wegzuschicken. So bildet sich auf dem Standstreifen der Grenzstraße eine mehr als zwei Kilometer lange Autoschlange.
Aufnahmeprozess
Nur vereinzelt kommen kleine Men- schengruppen über die Grenze, noch vereinzelter dürfen Fahrzeuge die Grenze queren. Zwischenzeitlich wird ein Buspendelverkehr etabliert. 500 Feldbetten dienen im bis auf einen Supermarkt ungenutzten Handels- und Einkaufszentrum „Dolina“ rund vier Kilometer von der Grenze entfernt als Übergangsunterkunft. Hier gehen ehrenamtliche Helfer, Soldaten und Feuerwehr emsig umher, zwei Suppenküchen versorgen die Menschen mit warmem Essen, regelmäßig kommen Privatfahrzeuge mit Kleider- und Lebensmittelspenden, während im Minutentakt Busse von der Grenze eintreffen. Zuvor hatte es im Umkreis nur kleinere Aufnahmemöglichkeiten gegeben. Kaum sind die größer angelegten Strukturen bis Samstagabend angelegt, kommen auch deutlich mehr Autos über die Grenze. Der Aufnahmeprozess scheint sich hier nun – wenn auch mit etwas Verzögerung – einzuspielen.

170 Kilometer entfernt im polnischen Zosin bietet sich ein komplett anderes Bild. Bei Minusgraden, die sich trotz Sonnenschein tagsüber fortsetzen, kommen hier Menschen aus dem von Krieg geplagten Land an. Auch hier warten Angehörige in Autos, die sie an den umliegenden Feldern geparkt haben. Zwischen vielen polnischen Kennzeichen ein deutsches, das vertraute „FN“ des Bodenseekreises wird von Straßenlaternen angestrahlt. Im Auto Iryna und Michael aus Bad Waldsee. Iryna stammt ursprünglich aus der Ukraine. Sie schildert: „Ich habe mich am Mittwochabend noch mit einer deutschen Nachbarin unterhalten. Sie wollte nicht glauben, dass Putin wirklich diesen Krieg beginnt. Ich habe aber da schon da gesagt, dass ich es sehr wohl glaube.“
Am Morgen danach bestätigte sich ihre Befürchtung. Jetzt steht sie hier mit ihrem Mann und wartet bei Minusgraden auf Familienmitglieder; ihre Mutter, Tante und ihren Onkel. Letzterer hat Glück, wirft Michael ein: „Er ist gerade 61 Jahre alt und darf daher mit über die Grenze“, erklärt er. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen derzeit aufgrund der Wehrpflicht das Land nämlich nicht verlassen.

Verfolgung durch GPS
Seit 46 Stunden sind die drei bereits unterwegs – auf einer Strecke von rund 500 Kilometern. Iryna und Michael können dank GPS in Echtzeit mitverfolgen, wo diese sich gerade befinden. Immer wieder herrscht völliger Stillstand. Die drei sind im eigenen Auto unterwegs, haben außerdem ihren kleinen Malteserhund dabei. Mitten im Gespräch meldet sich Irynas Tante: Sie seien jetzt rund 600 Meter von der Grenze entfernt, stünden dort im Stau. Wenige Stunden später ist die Familie dann vereint. Wie genau es weitergeht, ist da noch unklar. Vor allem eins verunsichert die beiden. „Wir wissen noch nicht, was eigentlich passiert, wenn der 90-tätige legale Aufenthalt endet, den ukrainische Staatsbürger durch das Schengenabkommen haben“, sagt Michael.
Stand bei Redaktionsschluss am 28. Februar 2022