Wir haben mit dem 21-Jährigen darüber gesprochen, wie es war, warum er dabei war, wie er zu seiner Partei Bündnis90/Die Grünen steht, und nachgefragt, warum er Schuldgefühle hatte, als er Lützerath verlassen hat.

Herr Rechtsteiner, Sie waren beim großen Protestzug in Lützerath dabei. Wie war es?

Es war ein wirklich krasses Erlebnis, aber auch ein unglaublich tolles Gefühl, zu sehen, wie viele Leute kamen, um ein Zeichen zu setzen – vor allem, weil es in Strömen geregnet und ziemlich stark gewindet hat. Es war eine Erfahrung, die bei mir noch lange nachklingen wird.

Video: Espen Rechtsteiner

Es war alles andere als ein gemütliches Wetter…

Keinesfalls. Es wäre nachvollziehbar gewesen, wenn der eine oder andere deshalb nicht gekommen wäre. Aber trotzdem sind so viele gekommen. Das Feld bei Lützerath war nur noch Matsch und Schlamm, in dem die Leute teilweise regelrecht steckengeblieben sind.

Sie sprechen von den vielen Menschen. Es gibt ganz verschiedene Zahlen über die Teilnehmer. Die Polizei spricht von 15.000, die Organisatoren von 35.000, manche sogar von 50.000. Welchen Eindruck hatten Sie?

Ich würde auf jeden Fall sagen, dass die 35.000 am ehesten rankommen. Ich habe selten so viele Menschen auf einmal gesehen. Das war wirklich eindrucksvoll. Und das Tolle war, dass ich sogar ehemalige Mitschüler aus der Waldorfschule Überlingen getroffen habe.

Demonstrations-Teilnehmer, wohin das Auge reicht: Tausende von Klima-Aktivisten waren am 14. Januar in Lützerath.
Demonstrations-Teilnehmer, wohin das Auge reicht: Tausende von Klima-Aktivisten waren am 14. Januar in Lützerath. Bild: Espen Rechtsteiner

Wie sind Sie von Lüneburg nach Lützerath gekommen?

Ich bin mit drei Kommilitoninnen kurz vor halb sieben morgens in Lüneburg mit dem Zug gestartet. Schon da waren mehr als 100 Leute dabei, die nach Lützerath fuhren. In Mönchengladbach sind wir dann in den Regionalzug umgestiegen, in den wir kaum noch reingekommen sind. Vom Bahnhof Erkelenz fuhren dann Shuttlebusse bis zu dem Punkt, von dem man noch eine Stunde Fußmarsch zum Protestzug vor sich hatte.

Auf dem Weg nach Lützerath: Schon bevor der Protestzug erreicht wurde, drängten sich Tausende von Demonstranten am Start des Shuttlebusses.
Auf dem Weg nach Lützerath: Schon bevor der Protestzug erreicht wurde, drängten sich Tausende von Demonstranten am Start des Shuttlebusses. Bild: Espen Rechtsteiner

Wie war die Stimmung?

Es war einfach unglaublich. Vor allem, weil alle Generationen dabei waren. Es gab Eltern, die mit ihren Kleinkindern in Fahrradanhängern dabei waren, wie auch ganz viele ältere Menschen. Auf dem Weg zur Demonstration waren bereits Menschenmassen. Deshalb begann der Protestzug auch eine Stunde später als geplant.

Eine Sprecherin der Aktivistengruppe „Lützerath lebt“ hat gegen die Polizei schwere Vorwürfe erhoben, sie habe „ein unglaubliches Maß an Gewalt“ angewendet. Haben Sie da auch etwas mitbekommen?

Ich habe selber nicht viel mitbekommen, weil ich bei der Kundgebung war und die Reden angehört habe. Ich habe aber Leute getroffen, die mir krasse Geschichten erzählt haben. Ich hatte mit einem noch einen Tag später Kontakt. Er sagte mir, dass ihm der Kopf von den Schlägen mit einem Schlagstock immer noch weh tun würde.

Espen Rechtsteiner in Lützerath
Espen Rechtsteiner in Lützerath Bild: Espen Rechtsteiner

Vor Ort war auch die schwedische Klima-Aktivistin Greta Thunberg. Auch sie hat auf der Kundgebung gesprochen, Wie war das?

Es war irgendwie surreal, sie einmal live zu erleben. Als sie geredet hat, war plötzlich eine ganz andere Stimmung vor Ort. Es lag eine Spannung in der Luft. Inhaltlich hob sie die internationale Verantwortung Deutschlands hervor. Was sie mit dem Satz unterstrich, „Was in Lützerath passiert, bleibt nicht in Lützerath,“ Sie betonte, dass schon heute die Menschen im globalen Süden am meisten unter der Klimakrise leiden. Allein ihre Anwesenheit hat gezeigt, wie wichtig der Moment in Lützerath ist und welche Bedeutung er hat, was sie mit den Worten „Die ganze Welt schaut auf Lützerath“ auch unterstrichen hat.

Es war ja Ihr zweiter Besuch in Lützerath. Wieso demonstrieren Sie dort?

Ich habe die Geschehnisse in Lützerath in den vergangenen Monaten natürlich verfolgt. Aber so richtig intensiv wurde es in den Weihnachtsferien, als mir bewusst wurde, dass die Räumung jetzt kurz bevor steht. Als es dann darum ging, dass es einen letzten Dorfspaziergang geben würde, hatte ich das Gefühl, dass ich das unbedingt noch einmal selbst sehen muss. Deshalb reiste ich am 8. Januar das erste Mal dorthin. Damals hat man schon gespürt, dass sich etwas zusammenbraut. Drei Tage später begann die Räumung.

Espen Rechtsteiner bei der Demonstration in LÜtzerath am 14. Januar.
Espen Rechtsteiner bei der Demonstration in LÜtzerath am 14. Januar. Bild: Espen Rechtsteiner

Das heißt, Sie haben das Dorf noch selbst erlebt?

Ja, ich habe die Häuser noch gesehen. Es war eindrucksvoll. Vor allem in Verbindung mit Braunkohletagebau Garzweiler II. Dieser Widerspruch von dörflicher Infrastruktur und unglaublicher Zerstörung ist nicht in Worte zu fassen. Dort stehen sich der fossile Kapitalismus einer Zivilgesellschaft gegenüber, die sich ein neues, sozialeres ökologischeres und gerechteres System wünscht. Garzweiler II ist eine dermaßen große Wunde in der Erde, eine Mondlandschaft, deren Dimension selbst vor Ort kaum begreifbar ist. Das hat mich definitiv verändert.

War das auch der Grund für die Teilnahme an der Demo?

Mit Sicherheit. Seit dem ersten Besuch war ich gedanklich sehr viel in Lützerath. Ich habe die Räumung intensiv verfolgt. Für mich war es eine Pflicht, dabei zu sein.

Und das, obwohl das Dorf schon geräumt war?

Gerade deshalb. Und sind wir mal ehrlich: Es geht doch schon lange nicht mehr um das Dorf an sich. Lützerath ist mittlerweile ein Synonym dafür, dass es kein „Weiter so“ mehr geben darf.

Auch nicht in Zeiten der Energiekrise?

Auch dann nicht. Es war ja ein Hauptargument von RWE, dass man die Kohle zur Energiesicherheit brauche. Aber das ist doch schon jetzt wiederlegt, weil wir durch die neuen LNG-Terminals bereits nicht mehr vom russischen Gas abhängig sind. Also ist dieses Argument valide!

Spuren aus Lützerath: Durch strömenden Regen gab es vor Ort jede Menge Schlamm und Matsch. Dementsprechend sahen die Schuhe des Quartetts aus Lüneburg aus.
Spuren aus Lützerath: Durch strömenden Regen gab es vor Ort jede Menge Schlamm und Matsch. Dementsprechend sahen die Schuhe des Quartetts aus Lüneburg aus. Bild: Espen Rechtsteiner

Dann ist jetzt die Politik gefragt. Was sollte Ihrer Meinung nach gemacht werden?

Es bedarf eines neuen breit angelegten Diskussionsprozesses. Ich wünsche mir, dass dies vor allem von den Grünen angeregt wird. Es muss einfach neu evaluiert werden.

Sie sind seit April 2021 selbst Mitglied in der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Stellt sich für Sie nicht die Frage des Austritts?

Nein, das wäre ja eher ein Weglaufen. Es gab sicher schönere Tage, ein Grüner zu sein. Es gibt Entscheidungen, für die ich mich schäme, in der Partei zu sein. Die Kritik wird klar formuliert und ist meiner Meinung nach berechtigt. Allerdings darf man aber nicht vergessen, dass die anderen Parteien gar nicht mehr adressiert werden, weil die Grünen tatsächlich noch als Hoffnungsträger galten, deshalb auch die große Enttäuschung vonseiten der Klimabewegung.

Wie geht‘s weiter: Wird es Ihr letzter Besuch in Lützerath gewesen sein?

Das weiß ich nicht. Als ich den Ort verlassen habe, kamen in mir so etwas wie Schuldgefühle hoch. Es war einfach so, dass ich auf dem Feld, im Matsch und in der Kälte gemerkt habe, dass es wirklich um etwas geht und dass man genau hier etwas bewegen kann. Lützerath ist mittlerweile geräumt. Es wird aber nicht der letzte Ort gewesen sein, an dem die Klimagerechtigkeitsbewegung für unser aller Zukunft kämpft!

Die Fragen stellte Reiner Jäckle