Das Wort „Alltag“ hat in Deutschland nicht nur positive Eigenschaften. Alltag bedeutet für viele, dass alles wie immer ist, ja, fast sogar schon etwas langweilig. Es gibt aber auch Regionen, die sehnen sich regelrecht nach einem Alltag – vor allem, wenn ringsherum Krieg herrscht. So ist es in der Ukraine. Besonders betroffen sind die etwa vier Millionen Kinder, die ab dem 1. September eigentlich das neue Schuljahr beginnen sollten. Und die meisten von ihnen haben es tatsächlich getan.
300.000 weniger Schüler
Laut den ukrainischen Behörden gebe es rund 300.000 weniger Schülerinnen und Schüler als im Vorjahr, da sie überwiegend mit ihren Müttern ins Ausland geflohen sind. Aktuell gehen mehr als die Hälfte dieser geflüchteten Minderjährigen in Polen zur Schule. Auch in Deutschland sollen es mehr als 100.000 sein. Die Seewoche war in einer Schule in Odessa zu Gast und hat erlebt, wie in einem Luftschutzkeller unterrichtet wird.

Ziel: geregelter Schulalltag
Doch in der Ukraine soll es einen möglichst geregelten Schulalltag geben. Das dortige Bildungsministerium hat beschlossen, dass 3540 Schulen wie gewohnt arbeiten sollen, 5497 Schulen im Land werden die Kinder per Online-Unterricht unterrichten und 3870 Einrichtungen bieten eine Mischform mit beiden Varianten an.
Unterricht ist ganz wichtig
„Es gab bei uns eine Diskussion, ob es sich lohnt, Schulen zu eröffnen oder nicht, und vor allem, ob sie sicher sind“, erzählt Antonina P., eine Mutter eines Zweitklässlers. „Natürlich ist ein Krieg im Gange, aber wenn wir den Bildungsprozess stoppen, wird er mit einer noch größeren Katastrophe enden.“ Kinder müssen auch in solchen Zeiten unterrichtet werden, betont sie: „Der Krieg wird eines Tages enden, auch wenn wir nicht wissen, wann“, so Antonina P. „Wir können es uns nicht leisten, bis dahin Millionen ungebildeter Kinder zu haben.“
„Meine Mutter, Großmutter und ich gingen nach Polen, als der Krieg anfing, aber unser Vater musste leider bleiben“, erzählt der achtjährige Matvey. „Ich habe mein Zuhause und vor allem meinen Vater aber so sehr vermisst, dass wir entschieden haben, zurück nach Odessa zu gehen.“ Sein Vater sage ihm immer wieder, dass alles gut werden würde. Er sage aber auch, dass die Kinder genauso gut lernen müssen wie die jetzigen Erwachsenen, denn die Kinder von heute müssten das Land von morgen wieder aufbauen.

Violeta M. ist Mutter eines Drittklässlers. „Wir haben jeden Tag die Sirenen gehört. Wir sehen sogar die Raketen über unseren Köpfen fliegen“, sagt sie. „Seit Beginn des Krieges wurde die Stadt bereits mehr als ein dutzend Mal bombardiert und dabei kamen zahlreiche Menschen ums Leben.“ Sie wünsche sich, dass die Kinder so etwas nicht miterleben müssen. „Es bricht mir das Herz zu erkennen, dass mein neunjähriger Junge kein Kind mehr ist“, sagt sie. „Sie haben ihm seine Kindheit gestohlen.“
Odessa ist relativ sicher
Mittlerweile sei es relativ sicher. Natürlich gebe es in der jetzigen Situation in der Ukraine keinen Ort, der hundertprozentig sicher ist, aber im Vergleich zu Mykolajiw oder Dnipro sei Odesse relativ sicher. „Ich hoffe, mein Sohn ist in der Schule sicher“, sagt Violeta M. „Jedes Mal, wenn wir eine Sirene hören, werden Kinder in den Luftschutzbunker gebracht. Ich glaube, dass da alles in Ordnung ist mit ihm.“

Protestaktion
Gleichzeitig mit der Öffnung der Schulen beteiligten sich Schüler und Lehrer an verschiedenen Antikriegsaktionen. Eine davon ist, dass die Beteiligten Überreste zerstörter russischer Militärmaschinen bunt anmalen. Damit dienen sie als Mahnmal und als Protest gegen den Krieg und die militärische Aggression. Insgesamt waren 25 Schüler und Lehrer an der Aktion beteiligt. Die bunten Mahnmale sind in den Außenbezirken von Odessa ausgestellt.