Die Sonne scheint an diesem letzten Montag im Januar. Wir sind unterwegs zum Literaturmuseum in Cherson, weil dort der ukrainische Ableger des Kriegskindermuseums (War Childhood Museum, wir berichteten) zu Gast ist, das wir aus Bosnien kennen. Am Vortag haben wir seine Direktorin zum Gespräch getroffen und uns ausführlich über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Ablegers und seines Ursprungsprojekts unterhalten – und immer wieder war auch der aktuelle, seit 2014 in der Ukraine schwelende Krieg Thema.

Bilder auf Steintafeln
Zwar ist das Museum an diesem Tag geschlossen, aber wir möchten zumindest einen Hinweis auf die Ausstellung für ein Fotomotiv finden. Von einem Großplakat schaut ein blaues Spielzeugnilpferd auf uns herab, daneben die Ankündigung in Kyrillisch. Die Stimmung draußen ist gelassen; vereinzelt schlendern oder fahren Menschen vorbei. Als wir gerade wieder ins Auto steigen möchten, entdecken wir gegenüber im Park große gerahmte Steintafeln, in deren oberen Teil das ukrainische Wappen eingearbeitet ist. Beim Nähergehen zeigt sich der Zweck des riesigen Aufbaus am Eingang des Parks. Hier wird den Gefallenen des Krieges ihre letzte Ehre erwiesen. Foto hängt hier neben Foto. Zumeist junge Männer schauen die Betrachter an. Viele der Fotos sehen privat aus, auf einigen tragen die Abgebildeten noch nicht einmal Tarnfarben.
Mahnmal mitten in Cherson
Die Liste der Kriegsopfer, die hier zumindest abgebildet werden, endete damals im Spätsommer 2021. Dennoch erzeugt dieses Mahnmal ein mulmiges Gefühl, an den Kreig erinnert zu werden. Und das mitten in Cherson, wo Bewohner im Sonnenschein spazieren und wenige Meter entfernt ihrem Arbeitsalltag nachgehen oder einkaufen. Der Krieg – so der Stand im Januar – hat zwar seit 2014 nie ein echtes Ende gefunden, beeinflusst aber doch den offensichtlichen Alltag im Land nur wenig. Er ist zu einer Konstante geworden, die im Hinterkopf nagt und das Schlafen erschwert. Das schildern uns mehrere Gesprächspartner, aber auch ihren Ärger über das, was sie als Hysterie und Panikmache des Westens wahrnehmen.
Das Sterben geht weiter
Nur unmittelbare Anwohner oder Bewohner der besetzten Gebiete nehmen das wahr, was man landläufig als Krieg kennt: Schusswechsel und Explosionen. Umso unheimlicher ist es nun, Zeugnis davon zu sehen, dass hier immer noch Menschen gewaltsam im Krieg zu Tode kommen. Dabei sind es die Leerstellen, die uns noch im Nachhinein am längsten beschäftigen: Rund ein Drittel der Tafeln ist nämlich noch nicht bebildert. Die unterschwellige Botschaft: Hier ist Platz für jene, die noch sterben werden. So erinnert das Mahnmal nicht nur an die Opfer, sondern macht auch sehr deutlich: Der Krieg ist nicht vorbei; das Sterben geht weiter. Angesichts der Bilder und Berichte aus Cherson, das eines der ersten Ziele des russischen Angriffskrieges war, der knapp einen Monat nach unserer Ukrainereise begann, wird klar, wie trügerisch der Alltag schon damals war; für alle, vor allem für die Bewohner des Landes.
Doch wie soll man jahrelang mit einem schwelenden Krieg im eigenen Land und der Gefahr einer Eskalation von außen leben, ohne beides ganz weit in den Hinterkopf zu verbannen? Eigentlich alle Flüchtenden aus der Ukraine, mit denen wir derzeit an der polnisch-ukrainischen Grenze reden, sprechen ihre Ungläubigkeit über den tatsächlichen Angriffskrieg offen aus. Niemand hätte damit gerechnet oder eher: Niemand wollte damit rechnen. Naiv waren die Menschen nie, die uns in der Ukraine begegnet sind.

Leonid Maslov
Da war etwa Leonid Maslov, den wir in seiner Anwaltskanzlei in Charkiw trafen und interviewten. Die Decke seines Büros zierte die Drohne, mit der er 2014 russische Angreifer identifiziert hatte und dafür Orden verliehen bekam auch das Modell einer Antipersonenmine fand in seinem Büro Platz. In seinem Kiewer Büro habe er Originale im Regal stehen, verriet er uns noch, natürlich entschärfte. Im Gespräch schilderte er klare Pläne für sich und seine Familie im Falle eines, wie er damals sagte, wenig wahrscheinlichen Angriffskrieges. Diesen Plänen ist er inzwischen nachgekommen. Aus dem Maslov, den wir mit Anzug in seinem Bürosessel kennenlernten, ist nun wieder der Soldat Maslov geworden, bis an die Zähne bewaffnet, in Tarnfarben gekleidet, an der Front.

Wenige rechneten mit Krieg
Die Ukrainer, die sich anders als Leonid Maslov nun geirrt haben und die Kriegsgefahr für Panikmache und westliche Propaganda hielten, leiden nun ebenso unter Putins Angriffskrieg. Grenzorte wie Milowe im Osten oder Wowtschansk nahe Charkiw hat die russische Armee mit zuerst eingenommen. In zweitgenannten Ort mussten wir sogar ein Interview abbrechen, da sich der Gesprächspartner zu sehr über die Fragen rund um die Grenze zwischen der Ukraine und Russland aufregte. „Würdest du deinen Bruder bekämpfen?“, sagte Yura nur drei Wochen bevor russische Truppe seine Heimatstadt einnahmen. Viel mehr regte er sich über Deutschland und die Nato auf, die sich nicht in ukrainische Angelegenheiten einmischen sollten.
Immer wieder wischten Gesprächspartner in Grenznähe die Warnungen unter einer Maßgabe weg: „Ich sehe keine russischen Panzer.“ Jetzt schlagen Raketen in ihren Stadtzentren ein, Militärkonvois rollen durch die Straßen. Freunde und Verwandte flüchten und sterben. Doch wie hätten sie auch anders mit dieser abstrakten Situation umgehen sollen? Wo (noch) kein Krieg herrscht, richtet sich auch der Alltag nicht danach.

Der Freiheitsplatz in Charkiw
Krieg spielt sich wie bereits beschrieben auch in den Köpfen ab und die wollten die Ukrainer nicht vorab von einem übermächtig scheinenden Gegner zermürben lassen. Also machten sie weiter. „Mit normaler menschlicher Logik kann man das nicht erfassen“, brachte es Aleksandr Kaganovsky aus Charkiw damals auf den Punkt. Trotz der Sorgen blickte er abends auf das Treiben vor der Nikolsky-Mall. Die liegt keine zwei Kilometer entfernt vom Freiheitsplatz, den russische Truppen nun mit Raketen in Schutt und Asche gelegt haben. Ende Januar war die Verbindungsstraße noch festlich geschmückt, auf dem Freiheitsplatz selbst war eine Eisbahn aufgebaut. Ein so harmonischer Winter ist in Charkiw nun auf lange Zeit nicht mehr absehbar. Auch die allseits geäußerte Hoffnung auf einen umfassenden Frieden im Land ist in weite Ferne gerückt.